Kartiks Schicksal
habe mich geirrt. Daran war wohl der Nebel schuld.«
»Im Himalaja wussten die Menschen, dass man vom Weg abkommen kann, wenn die Dunkelheit einfällt. Dann kann es passieren, dass man die Orientierung verliert und Dinge sieht, die nicht da sind.«
Ich sitze zu Vaters Füßen. Das habe ich nicht mehr getan, seit ich ein kleines Mädchen war, aber jetzt gerade brauche ich Trost. Er tätschelt liebevoll meine Schulter, während er sich seinem Tagebuch widmet.
»Wurde dieses Foto auf deinem Schreibtisch im Himalaja aufgenommen?«
»Nein. Das war auf einer Jagdexpedition in Lucknow«, antwortet er ohne weitere Erklärung.
Ich starre auf das Bild meiner Mutter und forsche in ihrem Gesicht nach Zügen von mir.
»Was wusstest du über Mutter, bevor du sie geheiratet hast?«
Vater zwinkert. »Ich wusste, dass sie dumm genug war, meinen Antrag anzunehmen.«
»Kanntest du ihre Familie? Oder den Ort, wo sie vorher gelebt hatte?«, bohre ich.
»Ihre Familie ist bei einem Brand ums Leben gekommen. Das sagte sie. Sie wollte nicht darüber reden, um die unerfreulichen Erinnerungen nicht wieder wachzurufen, und ich habe nie darauf gedrungen.«
So ist das mit meiner Familie. Wir reden nicht über das Unerfreuliche. Es existiert nicht. Und wenn es seinen hässlichen Kopf aus dem Loch steckt, schaufeln wir es zu und gehen weg.
»Dann könnte sie vielleicht Geheimnisse gehabt haben.«
»Mmmm?«
»Sie könnte Geheimnisse gehabt haben.«
Vater stopft Tabak in den Kopf seiner Pfeife. »Alle Frauen haben ihre Geheimnisse.«
Ich schmiege meine Wange an sein warmes Bein. »Dann wäre es doch möglich, dass sie ein Doppelleben geführt hat. Vielleicht war sie ein Zirkusclown. Oder ein Pirat.« Ich schlucke schwer. »Oder eine Zauberin.«
»Aha, das gefällt mir ganz besonders!« Vater pafft seine Pfeife. Der Rauch hüllt den Raum in einen Nebel aus Wohlgeruch.
»Ja«, fahre ich fort und werde noch kühner. »Eine Zauberin, die eine geheime Welt betreten konnte. Sie besaß eine ungeheure Kraft – eine Kraft, die sie an mich, ihre einzige Tochter, weitergegeben hat.«
Vater streichelt meine Wange. »Ja, das stimmt.«
Mein Herz schlägt rascher. Ich könnte es ihm sagen. Ich könnte ihm alles sagen. »Vater …«
Vater hustet und hustet. »Verdammter Tabak«, sagt er und sucht nach seinem Taschentuch.
Unsere Haushälterin kommt herein und bringt Vater unaufgefordert einen Brandy.
»Ah, Mrs Jones«, sagt Vater und nimmt einen lindernden Schluck. »Sie erscheinen mir wie ein Engel der Barmherzigkeit.«
»Möchten Sie jetzt vielleicht Ihr Nachtmahl, Sir?«, fragt sie.
Vater hat heute nicht mit uns zu Abend gegessen. Er behauptete, nicht hungrig zu sein. Aber er ist so dünn, dass ich hoffe, er wird jetzt etwas zu sich nehmen.
»Eine Tasse Suppe wäre vielleicht nicht schlecht.«
»Sehr gut, Sir. Miss Doyle, Ihre Großmutter bittet Sie, zu ihr ins Wohnzimmer zu kommen.«
»Danke«, sage ich verzagt. Ich will ihr nicht gleich wieder unter die Augen treten.
Mrs Jones verlässt den Raum mit jener Lautlosigkeit, die Dienstboten eigen ist, so als wagten nicht einmal ihre Röcke, ein Geräusch zu machen.
Vater schaut von seinem Tagebuch auf. Sein Gesicht ist von dem Hustenanfall gerötet. »Gemma, gibt es noch etwas, was du mir sagen wolltest, Kleines?«
Ich habe eine Kraft, Vater – eine enorme Kraft, die ich immer weniger verstehe. Sie ist ein Segen und ein Fluch. Und ich fürchte, wenn du davon wüsstest, würde ich nie mehr dein Liebling sein.
»Nein, nichts«, sage ich.
»Ah. Nun gut. Dann geh schon. Wir sollten deine Großmutter heute Abend nicht warten lassen.«
Er beugt den Kopf über seinen Schreibtisch und konzentriert sich auf seine Vögel, seine Landkarten, seine Anmerkungen zur Stellung der Gestirne – Dinge, die man beobachten, aufzeichnen und studieren kann.
Und als ich den Raum verlasse, nimmt er kaum Notiz davon.
*
Großmama sitzt in ihrem Sessel, mit ihrer Stickerei beschäftigt, während ich ein Kartenhaus baue.
»Ich war sehr bestürzt über dein Benehmen heute Nachmittag, Gemma. Stell dir vor, es hätte dich jemand gesehen, den wir kennen. Wir müssen an deinen Ruf – unseren Ruf – denken.«
Ich lasse eine Karte auf das Gebäude fallen, das ich gebaut habe. »Haben wir keine anderen Sorgen, als was die Leute von uns denken?«
»Eine Frau ist genauso viel wert wie ihr Ruf«, erklärt Großmama.
»Was für ein kleines Leben.« Ich werfe eine Herzkönigin auf mein Kartenhaus. Die Kartenwände
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