Kasey Michaels
betrunken kann ich noch nicht sein, dazu ist
noch zu viel drin. Aber Charlie?“
Bei der
Erinnerung an das Mädchen, das ein paar Jahre jünger war als er selbst, musste
Rafe lächeln: Groß, dünn, nur lange, schlaksige Beine und kantige Ellenbogen,
war sie ihm überall hin gefolgt, als wäre er ihr Ritter in schimmernder
Rüstung. „Tut mir leid, Charlotte hätte ich sagen sollen. Charlotte Seavers.
Der Besitz ihres Vaters schiebt sich wie ein Keil in das Ashurst-Land.
Vermutlich ist das ein noch größeres Ärgernis für meinen Onkel als
Willowbrook.“
Aus
irgendeinem Grund stand ihm plötzlich eine Erinnerung vor Augen: Er verbarg
sich im Obstgarten, um dem Unterricht mit seinen Cousins zu entgehen, und
Charlie, die in der Krone eines Apfelbaums hockte, rief nach ihm. Irgendwie
schien sie immer zu wissen, wo er sich herumtrieb, und war dann ebenfalls da.
Manchmal schmeichelte ihm, wie sehr sie an ihm hing, manchmal ärgerte es ihn
aber auch. Dieses Mal ärgerte er sich, und so hob er einen Fallapfel auf und
warf ihn in ihre Richtung, was natürlich dumm war, denn er hätte sie treffen
können oder sie so sehr erschrecken, dass sie aus dem Baum gefallen wäre und
sich verletzt hätte. Stattdessen hatte das kleine Ungeheuer den Apfel gefangen
und zurückgeworfen.
Drei Wochen
hatte er das blaue Auge gehabt.
„Rafe, du
träumst schon wieder!“
Rafe
schüttelte den Kopf, um die Kindheitserinnerungen zu vertreiben, doch die
Bewegung verursachte ihm unangenehmes Kopfweh. „Was hattest du gesagt? Dass
ein großzügiger Onkel nicht das schlimmste Los wäre? Sicher, doch weißt du,
ich bin nicht mehr der neunzehnjährige Junge. Heute, mit sechsundzwanzig,
widerstrebt es mir gewaltig, die kaltherzig gegebenen Almosen meines Onkels
anzunehmen. Für meine Schwestern kann ich leider nichts tun, und was mein
Onkel für sie und mich getan hat, dafür bin ich dankbar, aber ich muss mich
jetzt selbst um mein Fortkommen in der Welt kümmern.“
„Was
heißt?“
„Dass meine
Schwestern bei ihm gut genug aufgehoben sind. Ich selbst werde in der Armee
bleiben. Wenn man's genau betrachtet, ist Kämpfen das Einzige, was ich
beherrsche.“
„Es mag
dich überrumpeln, mein Freund“, flüsterte Fitz verschwörerisch, „aber ich
glaube, wir haben gerade keine Feinde mehr. Der Krieg ist vorbei.“
Da Fitz es
erwartete, lächelte Rafe, und als die Kellnerin zwei neue Krüge Ale auf den
Tisch stellte, zog er sie auf seinen Schoß und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
Sie kicherte und begann an seinem Ohrläppchen zu knabbern, woraufhin Fitz in
seinen Bart murmelte, dass immer Rafe der Glückliche sei.
Fitz mochte
das generell über ihn denken, und vielleicht nicht ganz grundlos, denn Rafe war
sich bewusst, dass dieser Onkel in mancher Hinsicht wirklich Glück für ihn
bedeutet hatte, doch er wollte verdammt sein, wenn er dem Mann je wieder auf
der Tasche lag. Wenn man nicht allzu viel sein Eigen nannte, wurde einem der
Stolz vielleicht übermäßig wichtig.
Außerdem
musste er an die Zukunft seiner Schwestern denken. Als er, in den Krieg zog,
waren die Zwillinge lästige, kichernde Kinder gewesen, noch jünger als Charlie.
Inzwischen mussten sie wohl sechzehn sein, und wie Rafe seine Mutter kannte,
hatte die nicht einen Gedanken an die Zukunft der beiden verschwendet.
Wie er
seinen Onkel wegen Nicole und Lydia ansprechen sollte, wusste er noch nicht,
doch hoffte er, dass er ihn mit Hilfe von dessen Schwester Emmaline überzeugen
könnte, zu der kleinen Mitgift, die sein Vater den Mädchen ausgesetzt hatte,
eine Summe hinzuzufügen und ihnen vielleicht sogar eine Saison in London zu
finanzieren.
Was er
allerdings mit seiner liebenswerten, oberflächlichen, verschwenderischen und
betrüblich
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