Kasey Michaels
wollte sehen, wo die armen Frauen
gestorben waren. Ich wäre doch nur eine Stunde oder so fortgewesen, und
...“
„Warum um
Himmels willen wolltest du das sehen?“ Charlotte nahm Nicoles Hand und
wusch sie mit Seife aus, vielleicht ein wenig fester, als nötig gewesen wäre,
doch das Mädchen protestierte nicht.
„Ach, ich
weiß auch nicht. Es war dumm, nicht wahr? Aber hier auf Ashurst Hall gibt es
nie etwas Aufregendes, alle Tage gleichen sich, und Lydia lässt mich ganz links
liegen und ist fast nur bei Captain Fitzgerald, liest ihm vor und lauscht
seinen Erzählungen aus der Fremde. Ich langweile mich zu Tode, Charlotte, und
du weißt doch, wie es dann mit mir ist.“
„Ja“,
sagte Charlotte, und das Herz wurde ihr schwer, „was dann 'passieren kann, weiß
ich nur zu gut. Komm, lass dich verbinden, und dann ziehst du diese Sachen aus
und wirst sie nie wieder auch nur zu Gesicht bekommen.“
„Lass gut
sein, Charlotte, wir wissen doch beide, dass ich oben auf dem Dachboden jede
Menge Zeug finden kann.“
„Wenn dein
Bruder das erfährt ...“
„Aber das
muss er ja nicht.“ Sie ließ sich einen Streifen Leinen um die Hand legen
und begann dann ohne Verlegenheit, sich aus den unpassenden Kleidungsstücken
zu schälen.
Charlotte
wusste, sie müsste es Rafe sagen. Immerhin war das Mädchen seine Schwester und
er ihr Vormund. Aber wenn er sie sich vornahm, mochte sie plötzlich einen ihrer
seltenen Anfälle von schlechtem Gewissen bekommen, und sie würde gestehen, dass
sie nicht zum ersten Mal allein und in Männerkleidung aus dem Haus geschlüpft
war. Um nicht alles allein abzubekommen, mochte sie ihm möglicherweise gar
erzählen, dass ihr gute Freundin Charlotte davon wusste, dass sie sie schon
einmal dabei erwischt hatte, ein paar Wochen, bevor der Duke und seine Söhne
ertrunken waren.
Und dann
würde Rafe mich anschauen und fragen ... nein, ich würde diese Fragen nicht
ertragen können.
„Aber um
nicht gesehen zu werden, kann ich doch nur im Dunkeln
ausreiten“, erklärte Nicole mit blitzenden Augen. „Du weißt gar nicht, wie
befreiend es ist, nicht im Damensattel reiten zu müssen. Ich schwöre, auch
meine Stute merkt den Unterschied, und wenn wir über das westliche Gatter
springen, hinein in die Wiesen, ist es, als könnten wir fliegen. Diese Gefühl
übersteigt alles, alles!“
„Bist du
nicht gescheit? Du setzt mit deinem Pferd über dieses Gatter? Das ist verrückt!
Es hat fünf Balken! Weißt du, was geschehen könnte, wenn Juliet plötzlich
scheut oder mit einem Huf hängen bleibt und ihr beide stürzt? Du lägst da
draußen im Dunkeln, und niemand wüsste davon, weil man dich im Bett glaubt!
Herrgott, Nicole, bist du von allen guten Geistern verlassen?“
„Anscheinend.“
Nicole grinste spitzbübisch. „Ach, schau mich nicht so finster an wie eine alte
Jungfer, die keinen Spaß versteht, weil sie selbst nie gewagt hat, Spaß zu
haben.“
„Ja, das
passt auf mich – die Hinterwäldlerin, die keine Vorstellung von Abenteuern oder
Spaß hat. Geh ins Bett, Nicole!“, sagte Charlotte bitter. „Geh einfach
ins Bett.“
„Nein!“
Das Mädchen rannte zu Charlotte und fasste sie hart beim Arm. „Du wirst es ihm
erzählen! Ich war gemein zu dir, und nun wirst du mich verpetzen! Charlotte, es
tut mir so leid, dass ich sagte, du hättest nie Spaß!“ Sie schloss sie in die
Arme und drückte sie fest. „Bitte, bitte, sag es ihm nicht! Sonst nimmt Rafe
mir Juliet weg!“
„Nein, das
glaube ich nicht“, sagte Charlotte und seufzte dann, denn er mochte das
durchaus tun. Es schien die einzig angemessene Strafe und vermutlich der einzige
Weg, Nicole von solchen Eskapaden abzuhalten.
Das Gesicht
in Charlottes Halsbeuge pressend, begann Nicole heftig zu weinen, mit
keuchenden Schluchzern, die ein härteres Herz als
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