Kasey Michaels
ein paar kleine Schlucke von der
goldbraunen Flüssigkeit trank. Sie schüttelte sich und murmelte: „Warum trinkt
man freiwillig so etwas Scharfes?“
„Aus
diversen Gründen, denke ich.“ Rafe setzte sich in den Sessel ihr
gegenüber. „Charlie, was war das gerade? Was Nicole sagte, stimmt. Deine
Mutter hat weder dich noch mich erkannt.“
Da die
ersten Schlucke ihr gutgetan zu haben schienen, sie wenigsten innerlich ein
wenig gewärmt hatten, trank sie noch einmal.
„Charlie?“
Sie
blinzelte, da ihr jäh die Tränen in die Augen schossen. „Ich will nicht über
Mama reden. Sie ist eben so.“
„So hat es
also nichts mit den Geschehnissen während des Sturms zu tun?“
„Nein, sie
ist schon länger so. Sie ... sie war nie sehr stark, ich meine, von Gemüt. Papa
und ich haben sie immer behütet, ihr alles abgenommen, um ihr Aufregungen zu
ersparen. Aber ganz schlimm wurde es erst, als ... ach, Rafe, manchmal schmerzt
es mich so sehr!“
Rafe ging
zu ihr, kniete vor ihrem Sessel nieder, nahm ihr das Glas ab und schloss seine
Arme um sie.
Sein
Mitgefühl gab ihr den Rest.
Sie
umschlang ihn, drückte den Kopf an seine Schulter und weinte herzzerreißend und
aus tiefster Brust, weinte heiße Tränen, die sich nicht erlaubt hatte, seit
ihre Mutter in jener schrecklichen Nacht zusammengebrochen war.
„Sie ist
nicht mehr sie selbst, und sie fehlt mir so sehr. Manchmal wünsche ich mir so
sehr, dass sie mich in den Arm nähme und sagte, dass alles wieder gut
wird.“
„Meine
Süße“, sagte Rafe und rieb ihr tröstend den Rücken, „warum hast du mir
nicht einfach gesagt, dass sie krank ist? Warum dachtest du, du müsstest es mir
verheimlichen?“
Zögernd
löste Charlotte sich von ihm und kramte in der Tasche ihres Kleides. Sie
schnüffelte. „Anscheinend habe ich kein Taschentuch.“
„Wenigstens
da kann ich helfen.“ Er reichte ihr sein großes
blütenweißes Leinentuch. „Los, Charlie, einmal kräftig schnauben!“
Unwillkürlich
lächelte sie. „Ja, Euer Gnaden.“ Dann tat sie, wie geheißen.
„Braves
Mädchen“, sagte er, drückte sie noch einmal an sich und stand dann auf.
„Und du musst mir auch keine Erklärung abgeben. Weißt du, diesen Ausdruck auf
dem Gesicht deiner Mutter kenne ich nur zu gut aus dem Krieg. Wenn der Mensch
zu viel gesehen hat, zieht er sich, um sich zu schützen, in sich selbst
zurück.“
„Um nur an
Schönes zu denken, meinst du?“ Charlotte wischte sich sehr undamenhaft
mit dem Handrücken die letzten Tränen fort.
„Ja, so
ähnlich. Wie oft habe ich einen jungen sterbenden Burschen im Arm gehalten, und
er glaubte, ich wäre seine Mutter, die ihn in den Schlaf wiegt; andere waren
körperlich unversehrt, aber sie waren nicht ansprechbar, hatten sich einfach
aus der Realität zurückgezogen. Wie auch immer, vermutlich ist es ein Weg,
sich zu schützen.“
Ein
weiteres Schluchzen unterdrückend, sagte sie: „Das scheint mir eine gute
Erklärung zu sein. So muss es bei Mama sein ... ich wünschte nur, sie ließe
mich manchmal ein in ihre Welt.“
Er bot ihr
noch einmal das Glas. „Da, trink aus. Und mehr erzählen kannst du mir, wenn dir
irgendwann einmal danach ist.“
Mit einer
Geste lehnte sie das Glas ab. Dann sagte sie: „Wenn ich anfange, muss ich dir
alles sagen. Es ... es hängt alles zusammen. Und eigentlich will ich es dir
erzählen, Rafe. Also, mein eines Ich jedenfalls.“
Er lächelte
sehr sanft. „Und welches Ich sitzt hier gerade bei mir?“
„Das Ich,
das weiß, du verdienst Antworten, nicht Ausflüchte.“
„Dann ist
mein eines Ich, das, das Antworten möchte, bereit, sie anzuhören. Was ist
deiner Mutter zugestoßen, Charlie? Warum zieht sie sich in sich zurück?“
Mit
gesenktem Kopf saß sie da; das Taschentuch in der Hand knetend, begann sie zu
sprechen, erst langsam, dann schneller und schneller, so als wollte
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