Kasey Michaels
Lydia
verantwortlich fühlte und quasi in Rafes Namen handelte, hatte sie unauffällig
einen Blick in eines der Schreiben geworfen, ehe es in den Postsack kam. Es
enthielt nichts als profane Berichte über die kleinen Vorkommnisse im Hause und
dazu gute Wünsche. Also keine glühenden Liebesbriefe. Trotzdem war es für
jedermann ersichtlich, dass Lydia glaubte, Captain Swain Fitzgerald tief und
unwiderruflich zu lieben.
„Übrigens
werde ich dir nie vergeben“, drang Helens Stimme in Charlottes
abgeschweifte Gedanken, „dass ich, nur weil du mir die Reise nach Brüssel
untersagtest, den wichtigsten Ball dort versäumt habe. Du gleichst nicht im
Mindesten deinem Vater, der immer glücklich war, mir alle Wünsche zu
erfüllen.“
„Ja, wie
gut ich mich erinnere. Aber wie du ja anmerktest, Mutter, bin ich nicht wie er.
Du hattest deine Apanage überzogen, also gab ich die Rechung der Hutmacherin
zurück. Nun, da du die Zuwendung für das neue Quartal bekommen und diese
Rechnung beglichen hast, steht es dir frei, samt deinen Epauletten zu reisen,
wohin immer du magst.“
„Du bist
grausam und herzlos“, verkündete Helen erbittert.
„Wie wahr.
Und außerdem bin ich solvent und möchte es bleiben – anders als mein Vater. Und
du wirst im Rahmen deiner Zuwendungen leben! Möchtest du dies alles wirklich
erneut auf den Tisch bringen?“
„Nein,
gewiss nicht, und du bist schändlich, es hier zu erörtern, vor zarten
weiblichen Ohren ... und vor Charlotte natürlich.“
Na, das hat
mir aber gezeigt, wo ich hingehöre, dachte Charlotte amüsiert und keineswegs
beleidigt.
Nach einer,
wie sie dachte, effektvollen Pause fuhr Ihre Ladyschaft mit ihren endlosen
Klagen fort, bis Rafe schließlich fragte: „Kannst du es nicht lassen, Mutter?
Oder muss ich darauf hinweisen, dass mit der Vormittagspost ein neuer Berg
Rechnungen eingetroffen ist, der meinen Schreibtisch zu sprengen droht. Ob du
wohl zufällig etwas davon weißt?“
Helen
wedelte abfällig mit der Hand, an der, wie Charlotte bemerkte, ein neuer
Rubinring prangte. „Pah, Unsinn, nur ein bisschen notwendiger Kleinkram,
Besorgungen in letzter Minute. Möchtest du, dass deine Mutter in Lumpen geht
und zum Gespött von ganz Brüssel wird? Da sei der Himmel vor. Rafael, mir ist
dein Ansehen wichtig! Ich trage nur meinen Teil dazu bei, es zu fördern, wie es
dem Duke of Ashurst gebührt.“
„Genau!
“, sagte Nicole mit vor Lachlust blitzenden Augen. „Pah, Unsinn! Schäm
dich, Rafe!“
Charlotte
musste ein Kichern unterdrücken. Rasch trank sie einen Schluck Saft, dann
fragte sie: „Wann werden Sie nach Dover aufbrechen, Madam?“ Himmel, klang
das jetzt interessiert oder nur höflich oder so, als könnte sie kaum warten,
bis diese verflixte Frau endlich zu plappern aufhörte und sich davonmachte?
Vermutlich
letzteres, dem harten Blick nach zu urteilen, mit dem sie durchbohrt wurde.
„Ich zögere
gerade, überhaupt zu reisen.“ Helen seufzte dramatisch. „Meine lieben,
unschuldigen Töchter zurückzulassen ist eins, aber abzureisen in dem Wissen,
dass eine junge Frau, die kaum alt genug ist, um sich Anstandsdame zu nennen,
unter dem Dach meines Sohnes weilt? Rafael, ich flehe dich erneut an, denk
doch, welchen Eindruck das macht! Um Miss Seavers willen schick sie heim zu
ihren Eltern.“ Lächelnd fügte sie hinzu: „Letztlich ist es ja nicht so,
als ob etwas dabei herauskommen könnte.“
„Ich bitte
um Vergebung!“, sagte Charlotte ironisch.
„Nein,
nein, meine Liebe.“ Helen tätschelte Charlottes Hand. „Ich sollte darum
bitten, weil ich so offen mit Ihnen spreche. Aber Sie und Rafael sind keine
Kinder mehr, wie damals, als ihr alle noch Ashurst unsicher machtet. Heute
müssen Sie
Weitere Kostenlose Bücher