Kassandra Verschwörung
schweizerisch-französischen Grenze arbeitete. Herr Grunner wusste, dass die Buchstaben CERN für Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire standen. Er wusste auch, dass »nucléaire« in diesem Fall nichts mit Atombomben oder irgendetwas Militärischem zu tun hatte. Die Mitarbeiter der Forschungseinrichtung waren Wissenschaftler, die versuchten, die Geheimnisse der Elementarteilchen zu ergründen.
Die stolzen Eltern hatten schon einmal eine Führung durch die CERN mitgemacht und waren von der Größe und Komplexität der unterirdischen Anlagen beeindruckt. Doch obwohl Herr Grunner den Ausführungen seines Sohnes Fritz aufmerksam lauschte, hatte er in Wahrheit nicht viel verstanden. Deshalb sollte es diesmal eine reine Vergnügungsreise werden: ein Ausflug in die Berge, ein paar gemeinsame Restaurantbesuche und nicht zuletzt die Gelegenheit, Fritz’ schweizerische Freundin Christel kennenzulernen.
Und jetzt musste er Anrufe tätigen, schuldete seiner Frau Erklärungen. Die Reise war aufs nächste Wochenende verschoben. Herrn Grunners Frau war alles andere als erfreut gewesen. Vielleicht war das der Grund dafür, dass er darüber nachsann, warum eine Angehörige des französischen Inlandsgeheimdienstes zusammen mit einem Angehörigen des britischen Inlandsgeheimdienstes sein Gefängnis besuchte. Es war eigentümlich, dass die sehr effektiv arbeitenden Auslandsgeheimdienste dieser beiden Länder nicht mit der Angelegenheit befasst waren. Eigentümlich genug jedenfalls, um einen Anruf beim Inlandsgeheimdienst seines eigenen Landes, dem BfV, zu tätigen.
Doch als Mademoiselle Herault und Mr. Barclay eintrafen, verhielt sich Herr Grunner höflich, entgegenkommend und respektvoll. Er bat sie auf eine Tasse Tee in sein Büro und erzählte ihnen die Geschichte des Gefängnisses. Nicht dass er sie von ihrem Termin abhalten wollte, er wollte nur höflich sein. Die jungen Leute schienen dies anzuerkennen.
Mr. Barclay hatte jede Mengen Fragen an Herrn Grunner.
»Hatte Bandorff in letzter Zeit Besuch?«
»Besuche sind auf ein Minimum reduziert.«
»Aber hatte er in letzter Zeit welchen?«
Herr Grunner sah aus, als ob er gleich ärgerlich werden würde, doch dann lenkte er ein. Er drückte zwei Tasten auf seinem Telefon, wiederholte Barclays Frage auf Deutsch und wartete. Kurz darauf kritzelte er etwas auf einen Notizblock, murmelte ein Dankeschön und legte auf.
»Seine Mutter und seine Schwester.«
»Am gleichen Tag?«
»Nein, an verschiedenen Tagen.«
»Wann hat ihn seine Schwester besucht?«
»Am zwanzigsten März«, Herr Grunner sah von seinem Notizblock auf, »um zehn Uhr morgens.«
»Ich nehme an, Sie überprüfen die Identität der Besucher?«
»Selbstverständlich.« Herr Grunner warf einen Blick auf seine Uhr. »So, wenn Sie so weit sind...?
Sie waren so weit.
Bandorffs Zelle wirkte groß, glich eher einem Krankenhauszimmer als einer Gefängniszelle. Herr Grunner hatte erklärt, dass Bandorff der Besitz persönlicher Dinge gestattet wurde: Bücher, Kassetten, ein Kassettenrecorder, sogar seine eigene Kleidung. Es gab eine Schreibmaschine, jede Menge Schreibpapier und einen tragbaren Farbfernseher. Die Wände waren sonnenblumengelb gestrichen und mit Landkarten und Postern dekoriert, darunter auch ein Foto des Papstes.
Als Erstes betraten zwei Aufseher die Zelle; sie würden während des gesamten Gesprächs anwesend bleiben. Wolf Bandorff sah fern. Er lag auf seinem Bett, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, die Beine ausgestreckt, die Füße übereinandergeschlagen. Er sah offenbar eine Quizsendung. Herr Grunner beugte sich zu Bandorff hinunter – der mit einem angedeuteten Nicken reagierte – und kehrte dann wieder zurück in sein Büro. An einer Seite des kleinen Tisches standen zwei Stühle so, dass man Bandorff zugewandt war. Der Terrorist machte keine Anstalten, seine Position zu verändern oder seinen Blick vom Fernseher abzuwenden.
Doch als Dominique Platz nahm, bemerkte sie, dass Bandorffs Blick zur Seite und dann unter die Tischplatte wanderte. Er starrte ihre Beine an. Instinktiv zog sie ihren Rock etwas weiter herunter. Er blickte auf, wobei seine runde Drahtgestellbrille im Licht glänzte, sah, dass sie seinetwegen an sich herumzupfte, und grinste. Er war Anfang fünfzig und hatte langes, inzwischen silbergraues Haar, das nach hinten gekämmt war. Man hätte es als »Mähne« bezeichnen können, wäre es nicht so schütter und ungewaschen gewesen. Er wirkte schlanker als auf den
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