Kassandra Verschwörung
Bandorff starrte immer noch das Foto an.
»Sie ist im Lauf der Jahre eine professionelle Terroristin geworden. Wir glauben, dass Sie ganz am Anfang ihrer Laufbahn bei Ihnen in die Schule gegangen ist.«
»O nein, nicht ganz am Anfang.«
Ein Durchbruch! Er hatte zugegeben, dass er sie kannte. Barclay musste weitermachen. »Wissen Sie viel über sie? Ich meine, wie sie in jungen Jahren war?«
»Rein gar nichts, mein Freund. Sie kam, blieb eine Weile und verschwand wieder. Als sie ging, wusste ich weniger über sie als bei ihrer Ankunft. Wohingegen sie ziemlich viel über mich wusste.« Er holte tief Luft und seufzte. Barclay roch Fleischwurst, Knoblauch und Karies. »Ach ja, die guten alten Zeiten. Ich wüsste gern, was aus ihr geworden ist. Können Sie es mir sagen?«
»Ich hatte eigentlich gehofft, Sie könnten es mir erzählen. Sie hat sie doch vor kurzem besucht, oder nicht?«
»Hat sie das?«
»Sie hat sich als Ihre Schwester ausgegeben. Die Hexe ist eine Verwandlungskünstlerin. Es dürfte ihr nicht schwer gefallen sein. Worüber haben Sie geredet?«
Wolf Bandorff starrte Barclay in die Augen und lachte. »So jung und schon so weise.« Dann wandte er sich wieder dem Fernseher zu. Barclay ließ nicht locker. Aus dieser Nähe konnte er die Muskeln unter Bandorffs grauem T-Shirt sehen.
»Sie brauchte Ihre Hilfe, stimmt’s? Sie müssen überrascht gewesen sein, sie nach so vielen Jahren wiederzusehen.«
Bandorff sprach leise, platzierte seine Worte in gleichmäßigen Abständen. »Wissen Sie, wie lange sie mich hier einsperren wollen?« Barclay wartete, dass Bandorff seine Frage selbst beantwortete. »Noch einmal sechzehn Jahre, mein Freund. Noch einmal sechzehn Jahre Bücher, Musik, Zeitschriften.« Er nickte in Richtung Fernseher. »Wenn ich rauskomme, sollte ich mein Glück mit Quizsendungen versuchen, vorausgesetzt natürlich, mein Gedächtnis spielt dann noch mit.« Er hielt inne, die Augen starr auf das Foto gerichtet.
»Ich muss Ihnen dafür danken, dass Sie mir dieses Foto gezeigt haben«, fuhr er schließlich fort. »Es hat meine Erinnerungen wieder lebendig werden lassen.« Er sah an Barclay vorbei zu Dominique. »Sie ist wirklich hübsch, nicht wahr?«
Barclay glaubte nicht, dass er Dominique gemeint hatte. »Sie war es«, sagte er.
»Sie ist es immer noch, glauben Sie mir. Diese Augen vergisst man nie.«
»Was wollte sie?«
Bandorff zuckte mit den Schultern und drehte sich wieder zum Fernseher.
»Sie brauchte Hilfe«, wiederholte Barclay, »und Sie haben ihr geholfen. Sie nannten ihr zwei Männer in Paris, die ihr helfen konnten.«
Bandorff sah wieder zu Barclay und lächelte. Barclay lächelte ebenfalls. »Ich bin es leid, sie Hexe zu nennen«, erklärte er. »Wie lautet ihr richtiger Name?«
Jetzt kicherte Bandorff. Barclay setzte sich wieder auf seinen Stuhl. Er suchte Blickkontakt zu Dominique. Sie schien ihn zu drängen weiterzumachen.
»Darf ich das Foto behalten?«, fragte Bandorff beiläufig.
»Vielleicht«, erwiderte Barclay, steckte das Foto jedoch zurück in seine Tasche.
»Soll ich Ihnen etwas verraten, mein Freund?« Barclay wartete. »Ich bin vielleicht der einzige lebende Mensch auf dieser Welt, der Balzacs Comédie humaine von vorn bis hinten durchgeackert hat. Jawohl, alle einundneunzig Bände. Mein Rat: Es ist die Mühe nicht wert.« Er lächelte in sich hinein, dann senkte er den Kopf, um sich die Nase zu kratzen. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Herr Grunner über Ihren Besuch besonders erfreut ist«, sagte er schließlich und hob den Kopf. »Sein Sonntag zu Hause ist ihm heilig. Sonntag... eine seltsame Tageswahl, mir Ihre Aufwartung zu machen.«
»Hier kriegen wir nichts raus«, meinte Dominique gerade laut genug, dass Barclay sie verstehen konnte.
»Sagen Sie, Herr Hexenfinder«, fuhr Bandorff fort, »warum sind Sie wirklich hier?«
»Sie hat ihren jüngsten Anschlag im Vereinigten Königreich begangen.«
Bandorff nickte. »Der Bankier Khan?« Er lächelte über Dominiques überraschten Gesichtsausdruck. »Die hiesigen Zeitungen haben die Geschichte gebracht. Ich bin kein Hellseher. Ich lese nur Worte. Hellseher hingegen können in Gesichtern lesen, meinen Sie nicht auch? Ich wusste von Khan. Es hieß, dass seine Bank terroristische Gruppen finanziert hat... aber meine nie. Wir mussten unsere Förderer woanders suchen. Dieses Foto... Woher wissen Sie, dass es die Hexe ist?«
Barclay zuckte mit den Achseln. »Ich persönlich weiß es gar
Weitere Kostenlose Bücher