Kastell der Wölfe
Sonnenlicht kam kaum bis zum Boden durch, weil das Blattwerk der Bäume einfach zu dicht war.
Was von dem alten Kastell noch stehen geblieben war, hatte sich völlig verändert. Die nicht sehr hohen Türme waren so gut wie verschwunden.
Auch hier hatte sich die Natur ihren Platz geschaffen und war in die Höhe gewuchert wie ein gefräßiges Monstrum. So war ein Schutz entstanden, eine Deckung, die sich die Wölfe zu Eigen machten. Hier hatten sie ihr Revier. Von hier schauten sie auf das Land und kamen sich wie Eroberer vor. Hier waren sie die Größten, denn es gab nur wenige Menschen, die sich an sie hierher trauten.
Und es gab noch eine zweite Welt, die unter der Erde lag. Die Welt der geheimnisvollen Gänge und Keller. Die Menschen hatten den Bau bereits vor langer Zeit verlassen. Er war damals von Angreifern zusammengeschossen und zerstört worden, aber die unterirdische Welt war geblieben, und so etwas hatten sich die Wölfe nicht entgehen lassen. Das war ebenfalls ihre Welt, nicht nur die an der Oberfläche.
Der Junge kannte sie. Oft genug hatte er sich darin aufgehalten. Und er wusste, dass dort etwas lebte, das nur die Wölfe kannten. Es sollte angeblich nicht von dieser Erde stammen, aber das wusste der Junge nicht. Er hatte nur noch sehr schwache Erinnerungen an sein früheres Leben. Auch ihn hatte eine Mutter geboren, aber sie hatte ihn nicht gewollt. Er war zurückgelassen worden, noch bevor er sprechen konnte, aber einige Bilder hatten sich in seinem Kopf festgesetzt.
Eine Frau mit langen zotteligen Haaren. Ein großer Korb, in dem er gelegen hatte. Ein auf dem Hügel liegender Platz. Das Anheulen und Anbeten des Mondes. Das Knurren der Wölfe. Die Schatten, die ihn umgaben und ihn schließlich aus dem Korb holten.
Er war mitgenommen worden. Die Tiere hatten ihm nichts getan. Sie hatten ihn nur zu sich gebracht und in den Gängen unter der Erde versteckt gehalten, wo sich der große Götze befand. Der Mächtige. Das unheimliche Glühen. Die andere Kraft, die alles beherrschte.
Zeit war verstrichen, und der Junge war gewachsen. Aber es gab niemand, der ihm etwas beigebracht hätte. Nicht das normale Sprechen, nicht das normale Laufen eines Menschen. Er hatte sich nur an den Tieren orientieren können und ihnen alles nachgemacht. So lief er nicht auf zwei Beinen, sondern auf Händen und Füßen.
Im Inneren seines Herzens allerdings war er Mensch geblieben. Die Erbanlagen hatte man ihm nicht nehmen können. Je mehr Jahre vergingen, umso stärker war die Sehnsucht in ihm geworden. Er hatte sich entwickelt, er war gewachsen, er war auch kräftig geworden – und merkte doch, dass die Sehnsucht immer stärker wurde.
Bei den Wölfen war er aufgewachsen. Mit fortschreitendem Alter spürte er allerdings, dass er nicht zu ihnen gehörte. Er war ein Mensch, obwohl er diesen Begriff nicht kannte, denn niemand hatte ihn das Sprechen gelehrt. Aber er hatte des Öfteren aus seinem Versteck hervor Menschen gesehen und festgestellt, dass sie wie er waren. Nur dass sie aufrecht gingen und nicht wie er auf Händen und Füßen.
Und so hatte auch er sich aufgerichtet, heimlich. Ohne dass er beobachtet werden konnte. Es war ihm schwer gefallen. Immer wieder war er in seine alte Haltung zurückgefallen. Aber er hatte Zeit. Niemand traute sich zu diesem Kastell. Genau das war sein großer Vorteil. So sah er, ohne gesehen zu werden.
Schon einige Male hatte er den anderen im Garten beobachtet und auch auf den Feldern. Er fühlte sich zu ihm hingezogen. Hätte er den Begriff Bruder gekannt, dann wäre er genau der Richtige gewesen.
Der Junge wusste, dass ihm der andere helfen würde. Auch er würde ihn mögen, und das Wolfskind hatte zudem festgestellt, dass der Junge nicht seinen Körper zeigte. Er sah anders aus, weil man nicht seinen Körper sah.
Das Wort Kleidung kannte der Wolfsjunge nicht. Er hauste in den Ruinen des Kastells zusammen mit den Wölfen wie auf einem fernen Stern. Aber die normale Welt ließ sich auch hier nicht vertreiben.
Der Junge war kein Wolf. Er war kein Vierbeiner. Er war nur in diese Welt hineingeraten, aber die andere lebte ebenfalls in ihm. Sie war viel stärker, und deshalb drang sie auch immer weiter vor, und aufhalten ließ sie sich nicht.
Der Wolfsjunge hatte zwar nicht gelernt, logisch zu denken. Doch es gab bei ihm auch Gefühle, und die drängten sich in ihm hoch. Sie hielten ihn umfasst, sie schoben ihn voran, und sie sorgten immer mehr dafür, dass er sich nach seinem wahren
Weitere Kostenlose Bücher