Kastner, Erich
Platz?«
Der Herr, der übrigens einem ehemaligen Tenor glich und eine sehr gerötete Nase besaß, blickte ins Abteil, sah wieder auf den Perron hinaus und sagte: »Es wird sich machen lassen.«
Storm stieg ein, wandte sich um und nahm seinem Reisegefährten den Koffer ab.
»Vorsicht!« knurrte Külz besorgt. Dann kletterte er ächzend hinterher. Der Herr mit der roten Nase war ihm behilflich. Es waren überhaupt, nach dem ersten Eindruck zu urteilen, ganz reizende Leute im Coupé.
Zufälligerweise lauter Männer.
Sie rückten bereitwillig zusammen und machten freundliche Bemerkungen.
Storm fragte den Herrn mit der roten Nase, ob er auch nach Berlin fahre.
»Nein, nur bis Warnemünde«, antwortete der Herr höflich. »Meine Gattin ist mit den Kindern dort. Zur Erholung.«
»Die lieben Kleinen«, sagte ein Mann, der in der Ecke saß, und kicherte albern.
Die anderen Fahrgäste blickten ihn höchst erstaunt an. Da wurde er verlegen und versteckte sich hinter einer Zeitung.
»Vielleicht bleibe ich einige Tage in Warnemünde«, fuhr der Reisende fort, der die rote Nase hatte. »Obwohl mich dringende Geschäfte nach Berlin rufen.«
Ein anderer Fahrgast meinte, die Nordsee gefalle ihm besser. Das
-Wasser sei härter. Die Luft sei salzhaltiger. Besonders Sylt habe es ihm angetan.
Külz setzte eine Zigarre in Brand und sah nach, ob sein Koffer noch im Gepäcknetz läge.
Der Koffer lag noch dort.
Bald unterhielten sich alle Fahrgäste miteinander, als seien sie lauter gute alte Bekannte. (Und so war’s ja auch.) Fräulein Irene Trübner fand ein Abteil zweiter Klasse, das ziemlich leer war. Nur die Fensterplätze waren besetzt. Von einem sehr jungen amerikanischen Ehepaar, das Zeitungen und Magazine las und diese gelegentlich austauschte.
Sie setzte sich in eine der Gang-Ecken und blickte sehr oft auf ihre Armbanduhr.
Draußen im Gang lehnten Fahrgäste aus den Fenstern und unterhielten sich mit Angehörigen und Bekannten, die in Kopenhagen zurückblieben. Einige holten bereits die Taschentücher hervor.
Dann ruckte der Zug an. Die Taschentücher wurden wild geschwenkt. Das amerikanische Ehepaar blickte von der Lektüre hoch.
Sie lächelten einander zu, brachen das Lächeln automatisch wieder ab und lasen weiter.
Fräulein Trübner fühlte sich beobachtet. Sie sah sich um.
Draußen im Gang stand der große schlanke Herr, der Rudi hieß!
Er nickte ihr zu und zog den Hut.
Dann kam er ins Abteil, setzte sich ihr gegenüber und fragte:
»Wollen wir uns wieder vertragen?«
Sie schwieg.
»Oh«, sagte er. »Sie haben die neuen Schuhe an! Reizend! Sie machen einen so kleinen Fuß.«
Fräulein Trübner schwieg.
»Die Absätze könnten etwas niedriger sein«, meinte er. »Niedrige Absätze sind gesünder.«
»Sind Sie Orthopäde?« fragte sie.
»Nein. Aber ich habe einen Vetter, der Arzt ist.«
»In Leipzig?«
»Wieso in Leipzig?«
Sie zog die Mundwinkel hoch. »Ich vermute stark, daß es sich um einen Bruder Ihrer Cousine Irene handelt.«
Er lachte. Er hatte ein entwaffnendes Lachen. Es klang, als lache eine ganze Oberprima.
»Sie unterschätzen die Struves«, sagte er dann. »Nicht daß ich renommieren will. Aber wir sind eine sehr fleißige, weitverbreitete Familie.«
»Interessant.«
»Mein Vetter beispielsweise lebt in Hannover. Er ist Hals-, Nasen-und Ohrenspezialist.«
»Aha. Deswegen weiß er so gut über Absätze Bescheid!«
»Eben, eben!« Er lehnte sich zurück, schlug gemächlich ein Bein übers andre, holte eine Zeitung heraus und sagte: »Ich lasse jetzt aus Schüchternheit eine Pause eintreten. Auf Wiederhören in einer Stunde.«
Dann begann er angestrengt zu lesen.
Der Zug fuhr durch die Insel Seeland. Nach Süden. Es war eine Reise durch Gärten.
Fräulein Trübner klemmte die große Handtasche energisch unter den Arm und sah, an dem amerikanischen Ehepaar vorbei, aus dem Fenster.
Fleischermeister Külz blickte, in seinem Abteil, ebenfalls hinaus.
Wenigstens mit dem einen Auge. Mit dem andern hütete er seinen Koffer und dessen Geheimnis.
Man hat’s nicht leicht, dachte er. Und beinahe hätte er’s auch laut gesagt.
Er trocknete sich die Stirn.
»Ist es Ihnen zu heiß?« fragte Storm besorgt.
Und ehe Külz noch antworten konnte, sprang ein andrer Fahrgast auf und ließ die Fensterscheibe herunter.
»Sehr freundlich«, sagte Külz und betrachtete die Runde. So viele liebenswürdige, vertrauenerweckende Menschen hatte er selten beisammen gesehen. Da hatte er wirklich
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