Kastner, Erich
Welt fast so klein, wie sie ist. Erst konnte er niemanden entdecken, der ihm besonders mißfallen hätte. Nach längerem Suchen aber bemerkte er auf der anderen Straßenseite, in der Toreinfahrt neben dem Cafe Hofmann, zwei Männer, die zu seinem Fenster emporblickten. Als sie sich von ihm beobachtet fühlten, senkten sie die Köpfe und taten unbeteiligt.
Joachim Seiler pfiff vor sich hin. Der Text zu der Melodie, die er pfiff, hieß: »Grüß euch Gott, alle miteinander!«
Dann schloß er das Fenster und sah die Post durch, die ihm seine Aufwartefrau auf den Schreibtisch gelegt hatte.
Frau Emilie Külz stand – dick und behäbig – im Laden und verkaufte, wie seit dreißig Jahren so auch heute, Fleisch-und Wurstwaren.
»Ist der Meister noch nicht zurück?« fragte die Kundin, die bedient wurde. Frau Külz schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Aber er schickt jeden Tag eine Ansichtskarte. Ich gönn’ es meinem Oskar von Herzen, daß er sich einmal in der Welt umschaut. Er mußte dringend ausspannen. Natürlich wollte er mich unbedingt mitnehmen! Aber einer von uns muß ja im Laden bleiben.« Ihr fiel das Lügen nicht leicht. Aber was ging die Kundschaft der Konflikt im Hause Külz an? Hauptsache, daß die Wurst gut war.
»Wo steckt er denn jetzt, der Gatte?«
»In Warnemünde. Gestern rief er sogar an!« (Endlich ein wahres Wort, dachte Frau Külz.) »Die Reise durch Dänemark war ziemlich anstrengend. Oskar ist das Reisen nicht gewöhnt. Und nun ruht er sich an der Ostsee noch ein bißchen aus.«
»Recht hat er«, meinte die Kundin. »Badet er oft?«
»Wieso?«
»Salzwasser zehrt und macht kolossal nervös.«
»Ich glaube nicht, daß er badet«, sagte die Fleischersfrau. »Er hat gar keine Badehose.«
»Dann allerdings«, entgegnete die Kundin und brach feinfühlig das Thema ab. »Geben Sie mir noch drei schöne Kalbskoteletts.
Nicht zu dick.«
»Soll ich sie klopfen?«
»Ich bitte drum.« Die Kundin betrachtete, indes Frau Emilie Külz die Koteletts vom Kotelettstück abschnitt und den Knochen durchhackte, die auf den Glastafeln überm Ladentisch zur Schau gestellten Würste.
Da öffnete sich die Tür der Ladenstube, und Fleischermeister Oskar Külz erschien! Er hatte eine blütenweiße, frischgestärkte Schürze umgebunden, nickte seiner teuren Gattin zu und begrüßte die Kundin.
Diese rief: »Ich denke, Sie sind an der See?«
»Gewesen«, erwiderte er. »Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei!« Zu seiner Frau sagte er: »Obacht, Emilie! Du sollst bloß die Koteletts klopfen, nicht dein Patschhändchen!« Er trat zum Hackstock und nahm ihr das Beil weg. »Laß mich mal! Und schau dir inzwischen an, was ich dir von meiner Weltreise mitgebracht habe!«
Die Fleischersfrau verschwand verdutzt in der Ladenstube.
Der heimgekehrte Meister klopfte die Koteletts, wickelte sie ein und unterhielt hierbei die Kundin. »So eine Reise hat’s in sich, Frau Brückner. Da erlebt man in einer Woche mehr als sonst im ganzen Jahr.«
»Ja, ja«, meinte die Kundin. »Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen.«
»Nee«, sagte Külz. »Das kann er nun wieder nicht! Bevor’s nicht in der Zeitung steht, muß er den Schnabel halten. Wie wär’s mit frischem Fleischsalat? Oder mit einem Viertel Rollschinken? Der schmeckt wie Marzipan.«
»Ein Viertel Zungenwurst!«
»Ist auch sehr zu empfehlen«, sagte der Meister, schnitt ein Stück Wurst ab, wog und schüttelte den Kopf. Er hatte, ganz gegen seine Gewohnheit, zuviel abgeschnitten. »Darf’s für einen Sechser mehr sein? Ich bin aus der Übung gekommen. Das hat man davon, wenn man nach dreißig Jahren zum ersten Male Ferien macht!«
Die Kundin zeigte sich einverstanden.
Er wickelte die Einkäufe zusammen, rechnete aus, was zu zahlen war, steckte den Bleistift hinters rechte Ohr, kassierte, gab Geld zurück und sagte: »Bitte, beehren Sie uns bald wieder!«
Frau Brückner ging. Die Ladenglocke bimmelte. Herr Oskar Külz trat in die Ladenstube.
Seine Frau saß auf dem Ledersofa und blickte ihm leise grollend entgegen.
»Na, nun weine mal nicht«, brummte er. »Ich hielt’s ganz einfach nicht mehr aus.«
»Warum hast du mir kein Wort davon gesagt? Ich und die Kinder, wir sind vor Angst fast gestorben. Uns zu erzählen, du fährst nach Bernau!«
»Vielleicht wollte ich wirklich nach Bernau«, meinte er nachdenklich. »Das heißt, das ist nur so meine Theorie.«
»Theorie?« fragte sie.
»Na ja. Theorie ist ein Fremdwort für faule
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