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Kater mit Karma

Kater mit Karma

Titel: Kater mit Karma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Brown
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sie.
    Dieselbe Technik wendete ich bei unserem unglücklichen Kater an, ich steckte ihn in eine Stofftasche und schob mir die Riemen über die Schulter. In der Geborgenheit der Tasche hörte er auf zu miauen und schnurrte stattdessen. Der Rhythmus meiner Schritte beruhigte ihn. Er streckte den Kopf aus der Tasche und bekam auf diese Weise alles mit, was ihn tröstete.
    Jonah hätte Stunden so verbringen können, aber auf Dauer war er mir zu schwer. Meine Arme ermüdeten damals schnell. Selbst wenn ich die Tasche dann auf den Boden gleiten ließ, blieb er eingerollt darin liegen, weil er wohl hoffte, ein anderer würde sich seiner annehmen. Jonah brauchte ständig einen Menschen, der sich um ihn kümmerte – nein, besser gleich mehrere. Da kam es gerade recht, dass sich unser Haus wieder mit Leben zu füllen begann.
    Mit hocherhobenem Schwanz kam er in die Diele gespurtet, um Lydia zu begrüßen, bremste dann aber abrupt ab. Die meisten Leute, die das Haus länger als vierundzwanzig Stunden verließen, wurden wie Verräter behandelt und mindestens zwei Tage lang von ihm geschnitten. Nach dreimonatiger Abwesenheit verdiente Lydia eindeutig eine härtere Bestrafung. Er schnüffelte an ihren Sandalen. Der Geruch weckte sein Interesse. Er beschnüffelte ihre Segelhose und den Rucksack, und als sie ihn auf den Arm nahm, auch ihre Haare. Er schien ihren Geruch zu lesen wie ein Mensch ein Buch. Ich fragte mich, ob in den Gerüchen Geschichten von Schlangen und Tempeln, von Räucherstäbchen und Elefanten steckten. Selbst meine viel weniger ausgeprägten menschlichen Sinne hatten Gewürze, Rauch und Staub, kombiniert mit etwas Blumigem an ihr wahrgenommen.
    Nachdem Jonah seine Nase zur Genüge in die Falten von Lydias Taschen und Kleidung gesteckt und daran geschnüffelt hatte, war alles vergessen und vergeben. Er vergrub seinen Kopf an ihrem Hals und brummte wie ein Tuk-Tuk. Dann erwies er ihr eine seltene und ausgesprochen großmütige Ehre – er leckte ihr den Handrücken. Fortan ließ er sie nicht mehr aus den Augen. Wo immer sie hinging, Jonah war auf Schnurrhaarlänge hinter ihr. Setzte sie sich, dann vergrub er sich in ihrem Schoß, damit sie bloß nicht mehr aufstand. Meditierte sie, saß er wie eine antike Statue mit geschlossenen Augen zwischen der Kerze und dem Foto ihres Gurus auf dem »Altar« in ihrem Zimmer.
    So schön es war, Lydias Schritte wieder auf der Treppe zu hören, schien sie auf einer unsichtbaren Wolke zu schweben, körperlich bei uns, aber geistig in einer ganz anderen Welt. Sie strahlte Güte aus, machte im Übrigen aber einen distanzierten Eindruck. Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass sie ihre fleischfressende, vergnügungssüchtige, nichtbuddhistische Familie als Versager betrachtete.
    Erneut überkam mich Widerwille gegen den Mönch, der sein Charisma dazu benutzt hatte, sie uns zu entfremden.
    Es kommt nicht selten vor, dass eine Tochter sich ihrer Mutter entfremdet. Das kann zufällig oder mit Absicht geschehen. Ich war selbstsüchtig und gelegentlich auch hartherzig auf Distanz zu meiner Mutter gegangen – um meiner Unabhängigkeit, meiner inneren Ausgeglichenheit und meiner Identität willen. Das schob ich zumindest vor. Die meisten starken jungen Frauen spielen mit dem Gedanken, ihre Wurzeln zu leugnen. Insbesondere wenn sie die Stimme ihrer Mutter im Kopf haben, die ständig all ihr Tun und Lassen beurteilt. Eine Tochter muss herausfinden, ob ihre Stärke echt ist oder bloß eine Leihgabe.
    Ich fand mich mit dem Gedanken ab, dass Lydia uns und dem, wofür wir standen, vielleicht eine Zeitlang den Rücken kehren würde. Die Aussicht, dass sie sich dabei selbst verlieren könnte, beunruhigte mich viel mehr. Dieses umherhuschende, vergeistigte Wesen kam mir nicht wie die richtige Lydia vor. Aber welche Argumente sollte ich vorbringen, wenn sie entschlossen war, sich in eine andere zu verwandeln?
    Abgesehen davon fühlte ich mich bis zu einem gewissen Maße verantwortlich dafür. Wenn ihr Vater und ich uns nicht hätten scheiden lassen, lägen die Dinge vielleicht anders. Als kleines Mädchen hatte sie sich so sehr bemüht, niemanden zu verletzen, dass sie die Tage, die sie bei ihrem Vater und bei mir verbrachte, gewissenhaft zählte, damit jede Familie gleich viel Zeit bekam. Es geht doch nichts über eine Scheidung, um Kinder in kleine Diplomaten zu verwandeln.
    Deswegen hatte sie aber noch lange keine schlechte Kindheit gehabt. Beide Familien, die Eltern und Stiefeltern, ihr

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