Kates Geheimnis
auch so, obwohl sie es für keine so gute Idee hielt, seine Einladung anzunehmen. Sie würde sich auf Kate konzentrieren. Sie würde sich auch nur ein einziges Glas Wein genehmigen. »Alex? Bringst du deinen Laptop mit?«
»Es ist nur ein Palmtop.« Er sah sie entschuldigend an. »Willst du heute Abend ins Netz?«
»Warum nicht?«
Seine Augen hingen an ihren Lippen.
Jill verging das Lächeln.
»Dann sehen wir uns unten«, sagte er, drehte sich um und ging den langen, kahlen Flur hinunter.
Jill sah ihm nach und hielt immer noch die Tür fest.
Irgendetwas ging hier vor, und es gefiel ihr ganz und gar nicht. Denn wenn sie
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schonungslos ehrlich zu sich selbst war, musste sie zugeben, dass sie ein wenig enttäuscht darüber war, dass er nicht versucht hatte, sie zu küssen oder zu berühren, und nun, da die Nacht hereinbrach, fiel es ihr schwer, ihre Gedanken in eine Richtung zu lenken, vor der sie sich nicht fürchtete.
Alex gab den Dienstboten frei und trug selbst auf einem Tablett zwei Gläser besten Portwein, zwei Tassen koffeinfreien Kaffee und zwei Stücke warmen Apfelkuchen herein. Jill folgte ihm in die Bibliothek.
Der Raum wirkte nicht gerade gemütlich, er hatte eine hohe Decke und war mindestens zweimal so groß wie Jills Wohnung. Aber er war immerhin kleiner als der
»große Salon« mit seinen zahlreichen Sitzgruppen und den vielen verblichenen, aber prachtvollen Teppichen. Außerdem bekam er auch dadurch etwas Anheimelndes, dass drei Wände vom Boden bis zur Decke voll Bücher standen.
In die vierte Wand war ein riesiger offener Kamin eingelassen, über dem ein ausgezeichnetes impressionistisches Gemälde hing. Jill hatte sich die stürmische Hafenszenerie schon aus der Nähe betrachtet und gesehen, dass es sich um einen echten Vlaminck handelte. Die Möbel waren alt und hervorragend gearbeitet, die Bezüge auf elegante Art verblasst. Jill setzte sich auf den Boden und lehnte den Rücken an den abgenutzten, goldenen Damastbezug des kleinsten der drei Sofas. Sie streifte 406
ihre Cole-Haan-Slipper ab, wackelte mit den nackten Zehen und seufzte zufrieden - eine halbe Flasche superber Wein und ein paar Schlucke Port hatten ihr geholfen, sich zu entspannen.
»Was für eine großartige Mahlzeit. Ich bin pappsatt.
Würdest du es unmöglich finden, wenn ich diesen Kuchen für einen Mitternachtsimbiss mit auf mein Zimmer nähme?«, fragte sie.
»Ich finde, das klingt gut«, erwiderte Alex und stellte das Tablett vorsichtig auf das zierliche Tischchen vor Jill. Er brachte sein Mini-Notebook, das nicht größer war als Jills Filofax, und stellte es daneben. Jill fühlte die Anspannung wachsen, und das wohlige Gefühl verschwand.
Er fummelte an dem Modem herum und ersetzte das kurze Kabel durch ein längeres, das er in die Telefonbuchse steckte. Wortlos sah Jill ihm zu. Sie wollte immer noch herausfinden, wann Anne sich verlobt hatte, aber wollte sie wirklich in Alex’
Dateien herumschnüffeln? Und was, wenn sie dort die Gallagher-Briefe fand?
Er fuhr den Minicomputer hoch. Dann setzte er sich neben sie und ließ die Finger über die Tasten flitzen.
»Es wird einen Moment dauern, bis wir da sind, wo wir hinwollen.«
Er sagte immer »wir«. Jill griff nach dem Kaffee.
Sie sollte heute wirklich keinen Alkohol mehr trinken. Sie war bereits angesäuselt, und sie waren 407
allein. Das Haus war riesig - aber sein Zimmer lag ihrem direkt gegenüber.
Da ist ein Mann ... du darfst ihm nicht trauen ...
wenn du es tust, wird etwas Schreckliches geschehen
...
»Wir sind jetzt bei der Tribune «, unterbrach er ihre Gedanken. »So kannst du dich durch die Seiten jeder Ausgabe bewegen«, sagte er und zeigte ihr, welche Tasten sie drücken musste.
Jill stellte ihre Kaffeetasse weg und rutschte zur Seite, so dass sie direkt vor dem Palmtop saß. Sie kniff die Augen zusammen. Schlagzeilen der Zeitung vom Oktober 1908 schwirrten über den Bildschirm.
Das war der Monat, in dem Kate zum letzten Mal gesehen worden war - in dem sie verschwunden sein musste. »Ich frage mich, wann Anne und Edward geheiratet haben«, sagte sie, und weil Kates Leben sie so faszinierte, war es einfach, die quälenden Fragen um Alex beiseite zu schieben. Für den Moment.
Außerdem konnte sie wohl kaum seine Dateien durchsuchen, während er hier neben ihr saß.
Sie ließ sich von ihrem Gefühl leiten und überflog rasch die Seiten. Sie wusste, dass Alex neben ihr saß, seinen Port trank und sie
beobachtete, obwohl sie nicht
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