Kates Geheimnis
und richtete sich auf.
Sie dachte an den Ordner; sie dachte an die verschwundenen Briefe. Sie würde nie eine bessere Gelegenheit bekommen, sein Notebook zu durchsuchen. Sie griff nach dem Tablett.
»Eines der Mädchen wird das morgen früh machen, lass es einfach stehen«, sagte er. »Aber vergiss deinen Kuchen nicht.« Er lächelte sie an.
Mit verschlossener Miene nahm Jill den Teller, und dann gingen sie schweigend hinauf. Sie würde eine Stunde abwarten, entschied sie, bis er eingeschlafen war, und dann hinuntergehen und sehen, was sie auf seinem Palmtop finden konnte. Sie fühlte sich scheußlich, als plane sie ein unvorstellbares Verbrechen.
412
Vor ihrer Tür blieben sie stehen; seine war direkt gegenüber. Jills Schultern waren unglaublich steif geworden. Es kam ihr vor, als sei sie im Begriff, ihn zu betrügen, was absolut lächerlich war.
Er starrte sie an, und sein Blick war intensiv und forschend. Jill schaute weg und murmelte »Gute Nacht.«
Er rührte sich nicht.
Jills Herz schlug noch schneller. Viel zu schnell.
»Oh nein«, dachte sie und merkte, dass sie die Worte geflüstert hatte.
Denn er sah sie weiter so an, und irgendwie hatte sich der Abstand zwischen ihnen dramatisch verringert. »Jill.«
Sie wollte ihn. Sie hatte Angst.
Plötzlich hob Alex ihr Kinn und küsste sie. Ihre Lippen berührten sich leicht, einmal, zweimal, dreimal. Und Jill spürte, wie der Druck seiner Finger sich verstärkte, seine Lippen fester wurden, sie spürte die Spannung, die plötzlich von ihm ausging wie von einer Starkstromleitung.
Plötzlich trat Alex zurück, er lächelte nicht. »Ja.
Schlaf gut«, sagte er. Und drehte sich um. Einen Moment später war er in seinem Zimmer verschwunden und hatte die Tür fest hinter sich geschlossen.
Jill starrte auf das blank polierte Holz. Das Atmen fiel ihr wieder ein. Sie bebte am ganzen Körper.
413
Schnell schlüpfte sie in ihr Zimmer, schloss die Tür und lehnte sich dagegen.
Ihr Gehirn verweigerte den Dienst, und Jill wusste nicht, wie lange sie so mit dem Kuchenteller in der Hand stand und der Stille des Hauses und der Nacht lauschte.
Schließlich kam sie wieder zu sich. Er würde nicht zurückkommen, und das war auch besser so. Sie stellte den Teller auf den kleinen Schreibtisch, dachte über ihren Plan nach, heimlich seinen Computer zu durchsuchen, und fühlte sich schäbig. Er hatte sie gerade eben geküsst. Zärtlich. Wenn er ein verlogener Mistkerl wäre, hätte er sie heftiger dazu gedrängt, mit ihm ins Bett zu gehen, da gab es keinen Zweifel.
Jill ging aufgewühlt im Zimmer auf und ab und schaute alle paar Sekunden auf die Uhr.
Schließlich wurde es ihr zu viel, und sie setzte sich.
Wenn sie nicht heute Nacht seinen Computer durchsuchte, würde sie vielleicht nie wieder Gelegenheit dazu haben. Sie konnte ihr Vorhaben nicht einfach abblasen. Kate zählte auf sie.
Jill merkte, was sie da gerade gedacht hatte, und erstarrte. Kate war tot. Niemand zählte auf sie außer ihr selbst.
Sie sah wieder auf die Uhr auf ihrem Nachttisch. Es war Viertel vor zwölf. Wie lange war es her, dass er sie auf dem Gang geküsst hatte? Sie dachte, dass 414
fünfzehn Minuten oder mehr verstrichen sein mussten.
Jill zog ihre Slipper aus, ging zur Tür und hielt ein Ohr an das Holz. Es war nichts zu hören.
Sie machte sie einen Spalt auf und lauschte angestrengt. Wiederum herrschte im Flur, in seinem Schlafzimmer, im ganzen Haus Totenstille.
Jill schlich sich aus ihrem Zimmer und huschte den Flur entlang, der immer noch hell erleuchtet war.
Jedes Mal, wenn unter ihr eine Diele knarrte, machte ihr Herz einen Looping. Sie schaute immer wieder über die Schulter, aber Alex kam nicht zum Vorschein. Unten eilte sie atemlos durch das dunkle Haus, das ihr auf einmal sehr groß und sehr leer vorkam. Einige der Bediensteten wohnten auf dem Anwesen, wie sie wusste; die anderen kamen jeden Tag von der Stadt oder einem nahe gelegenen Dorf hierher.
Plötzlich fühlte Jill sich beobachtet.
Als sie die Bibliothek betrat und das Herz ihr vor Aufregung bis zum Hals schlug, sagte sie sich, dass das Unsinn war. Ausgenommen natürlich, es gäbe hier Gespenster.
Zitternd knipste sie die kleine Lampe neben dem Sofa an, vor dem sie mit Alex auf dem Boden gesessen hatte. Wahrscheinlich spukte es hier wirklich, aber sie interessierte sich nur für einen bestimmten Geist. Trotzdem hatte Jill den Verdacht, 415
dass sie glattweg in Ohnmacht fallen würde, wenn sie jemals Kate
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