Kates Geheimnis
wegschauen sollte, einen Schutzwall errichten, und zwar schnell. Aber sie tat es nicht. Im Augenblick konnte sie das einfach nicht.
Das Bad war heiß und dampfte, und Jill wollte auf ewig darin liegen bleiben.
Sie waren vor einer Stunde in Stainesmore angekommen, über kurvige Straßen, die so schmal waren, dass ihr ein Frontalzusammenstoß sicher schien, falls sie einem anderen Auto begegneten. Die Straßen wurden von hohen Steinwällen begrenzt, an denen Kletterpflanzen und manchmal Blumen wucherten; hinter diesen uralten, verfallenden Mauern erstreckte sich eine scheinbar endlose, karge, nackte Moorlandschaft, bis sie irgendwo auf Meer und Himmel stieß. Ab und zu sah Jill eine grasende Schafherde. Einmal entdeckte sie sogar einen Reiter auf einem fernen Hügel. Die Straße wurde immer steiler und steiler. Alex hatte erzählt, dass die Robin Hood Bay »da drüben« sei, und in südlicher Richtung auf die Küste gezeigt. Derweil kletterte der Lamborghini stetig bergan, und der Motor schien lautstark gegen die Qualen des langsamen Tempos und des steilen Anstiegs zu protestieren.
Stainesmore wirkte wie die gotische Kulisse eines Schauerromans. Das Anwesen lag auf einer 402
baumlosen Erhebung, mit dem Rücken zu den Klippen und der See. Es war ein hoch aufragendes, burgähnliches, rötlich braunes Gemäuer mit einem Torbogen, der auf einen grasbewachsenen Hof führte.
Zinnen ragten aus dem Dach des langen, viereckigen Hauptgebäudes, das von zwei runden Türmen flankiert wurde. Jill hatte eher eine sommerlich anmutende, weißgetünchte Villa erwartet. Ihr blieb der Mund offen stehen, als sie sich der Eingangstür näherten, an der sie die Haushälterin und ein Dutzend Diener erwarteten, um sie mit Knicksen, Verbeugungen und »Guten Tag, Sir. Guten Tag, Madam« zu begrüßen.
Jill seufzte. Die Badewanne auf krallenförmigen Füßen war eine Antiquität, bis hin zu ihren Messingarmaturen. Das Badezimmer war groß und sehr geräumig, aber spärlich eingerichtet - eine uralte Toilette mit Seilzug, ein kleines, sockelartiges Waschbecken, ein Handtuchhalter und ein elektrischer Heizlüfter. Aber der Fußboden war aus beigem Marmor, und durch die riesigen Fenster blickte man auf das schmale Stück Land hinter dem Haus. Dort gab es einen Pool und die Rosengärten, wegen denen Edward an seinen Gärtner geschrieben hatte. Sogar in der Wanne liegend konnte Jill die Aussicht auf die dunkler werdende graue See und den abendlichen Himmel genießen. Jill bedauerte nur, dass sie nicht auch noch ein Glas Wein in der Hand hatte.
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Langsam dämmerte ihr, dass sie, auch wenn Hal noch lebte und sie nie von seinen Lügen erfahren hätte, eines Tages vielleicht selbst die Beziehung beendet hätte wegen der riesigen Unterschiede in Klasse und Kultur zwischen ihnen beiden.
Schließlich stieg sie aus der Wanne und begann sofort zu bibbern, weil die Luft eiskalt war und sie nicht daran gedacht hatte, den kleinen Heizlüfter anzumachen. Sie wickelte sich in ein riesiges weißes Frottiertuch und stellte sich Alex als kleinen Jungen vor, der hier bei Onkel und Tante den Sommer verbrachte. Hatte er sich nicht als krasser Außenseiter gefühlt, so wie sie jetzt? Sie beschloss, ihn zu fragen, wie das gewesen war.
Ein Klopfen an ihrer Schlafzimmertür schreckte sie aus ihrer Träumerei.
Da sie barfuss und noch immer in das Badetuch gewickelt war, zögerte Jill. Das war ganz sicher Alex, und sie war sich nur allzu bewusst, dass sie vom Bad heiß und feucht war und unter dem kuscheligen weißen Handtuch völlig nackt. Nervös öffnete sie die Tür und sah, dass Alex seine verwaschene Levis und den eng anliegenden gelben Kaschmirpulli trug, dazu weiche, ausgetretene Slipper. Sein Haar war feucht.
Offenbar hatte auch er gebadet.
Die Jeans umschloss seine Hüften und die langen Beine wie ein Handschuh, und der Pulli lag wie angegossen an seinen breiten Schultern und muskulösen Armen. Jill schaute weg, merkte aber 404
noch, wie sein Blick über ihr dickes Badetuch glitt.
»Tut mir Leid. Ich dachte, du wärst schon fertig.«
Jill trat zurück und war sich nur allzu bewusst, dass sie ganz allein mit ihm auf ihrer Schwelle stand, in einem praktisch menschenleeren Haus. »Ist schon okay.«
»Ich warte unten in der Bibliothek auf dich. Die ist gemütlicher als das Wohnzimmer. Was hältst du von einem Glas Rotwein? Wir haben hier einen wirklich hervorragenden Weinkeller.«
»Klingt gut«, sagte sie mit einem knappen Lächeln und meinte es
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