Kates Geheimnis
Sofa. Sie hatte so wenige Freunde. Lucinda war sogar ihre einzige Freundin in London, aber nun wurde ihr klar, dass sie auch Alex trotz ihrer Zweifel und ihres Misstrauens, trotz KCs Warnung als Freund betrachtete. Sie wollte seine Freundschaft nicht verlieren. Aber vielleicht wäre das sogar besser.
Morgen. Morgen würde sie klarer denken können, sagte sie sich. Morgen würde sie überlegen, was sie tun sollte.
Und als sie gleich darauf einschlief, spukte Alex in ihren Träumen herum, nicht Kate.
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Aber nicht für lange.
Kates Gesicht stand fast schmerzlich deutlich vor ihr.
Ihre dunklen Augen waren weit aufgerissen, ihr hübsches Gesicht so blass, dass ihr Leberfleck schwarz erschien. Das lange Haar fiel ihr offen über die Schultern, aber die Locken waren ungekämmt und wirr. Kate starrte sie mit ihren riesigen Augen unverwandt an.
Jill warf sich unruhig auf dem Sofa hin und her. Sie war in dem Traum gefangen, obwohl sie irgendwo tief drinnen wusste, dass es nur ein Traum war. Aber Kate sah sie unablässig so merkwürdig an, fast flehentlich.
Jill stöhnte.
Kate sah sie an und begann zu sprechen.
Jill lauschte angespannt. Kate sprach hastig, ihr Mund bewegte sich rasch und formte Worte, die Jill nicht hörte. Offensichtlich war sie mehr als beunruhigt, sie war verängstigt und redete auf jemanden ein. Aber Jill konnte kein einziges Wort verstehen, sie hörte nicht das leiseste Geräusch. Jill wollte aufwachen. Hier war etwas nicht in Ordnung, ganz und gar nicht in Ordnung, und sie wollte nicht davon träumen, sie wollte nichts davon wissen.
Und dann war Kates Gesicht verschwunden. Jill sah nur noch Wände aus großen, grauschwarzen 421
Steinbrocken, die so dicht vor ihr aufragten, dass sie die Hand ausstrecken, den Stein berühren und die rauhe, unbehauene Oberfläche spüren konnte ...
Jill fasste in nassen, körnigen Dreck.
Ihre Fingerspitzen trafen auf feuchte Erde, nicht auf Stein, und sie fuhr zurück, die Galle stieg ihr hoch, sie wollte zurücktreten, die Hände wegnehmen, aber stattdessen füllten sich ihre Hände mit matschiger Erde, grobe Klumpen blieben zwischen ihren Fingern hängen und bohrten sich unter ihre Fingernägel. Nein, dachte Jill
ängstlich, aber anstatt zurückzutreten, grub sie die Hände weiter in den Dreck, tiefer und tiefer, während Panik und Verzweiflung Besitz von ihr ergriffen.
Nein, dachte Jill wieder, völlig außer sich. Ich will das nicht tun! Da war so viel Dreck! Sie schaute auf ihre Hände herab, die mit dunkelbrauner Erde bedeckt waren, und dann sah sie das Blut - Blut überall ...
Und dann sah sie den Turm. Es war ein quadratisches Gebilde aus Stein, eine verfallene Ruine, die zwischen Grüppchen verkrüppelter Bäume aufragte, umrahmt von einem trüben, grauen Himmel und der schäumenden See.
Ich muss hier raus, dachte Jill panisch. Aber wenn sie versuchte, aufzustehen, versanken ihre Finger in der Erde, und wenn sie hinunterschaute, sah sie das Blut, und wenn sie aufblickte, sah sie die undurchdringlichen Mauern ...
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Ein Schrei erfüllte die steinerne Kammer. Er klang beinahe unmenschlich und ging ihr durch Mark und Bein.
Ein Schrei wie im Todeskampf?
Jill fuhr hoch.
Während ihr verwirrter Verstand langsam aus dem surrealen Traum in die Bibliothek von Stainesmore zurückkehrte, hörte sie immer noch den entsetzlichen Schrei in sich widerhallen.
Ein Schrei voller Entsetzen und Verzweiflung.
Es lag auch rasende Wut darin.
Jill merkte, dass ihre Finger sich nicht in Erde, sondern in den Bezug des Sofas krallten. Ihr Blick schweifte rasch von dem Sofa über den Kaffeetisch zu der kleinen Lampe auf dem Beistelltisch. Sie war in der Bibliothek in Stainesmore. Und sie zitterte wie Espenlaub.
Jill schnappte nach Luft. Das war der schlimmste Traum, den sie je gehabt hatte. Er war so entsetzlich real gewesen, aber schließlich doch nur ein Traum.
Und weiter nichts.
Aber immer noch konnte sie Kates Gesicht ganz deutlich vor sich sehen. Niemals würde sie den verzweifelten, verängstigten Ausdruck vergessen können
»Es war nur ein Traum«, murmelte Jill und schlang die Arme um ihre Brust. Unsicher kam sie auf die 423
Beine und blickte trübe in die Dunkelheit, aber Kate Gallagher erschien nirgends, auch nicht als Geist, Gott sei Dank. Jill merkte, dass sie schweißgebadet und verweint war. Dann erinnerte sie sich an KCs Traum.
Aus Kate wurdest du.
Jill rührte sich nicht, ihr Herz schlug heftig. Und sie fror von dem feuchten Schweiß auf
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