Kates Geheimnis
dass es ein blöder Streich war. Und in jedem Viertel passiert ab und zu etwas, Jill.«
Sie fühlte sich nicht wohl bei dem Vorhaben, ihn so zu ködern. Aber es musste sein. »Warum hast du dann nicht die Polizei angerufen?«
»Das hab ich schon. Sie haben gestern Nacht noch jemanden vorbeigeschickt, und ich habe eine Aussage 558
gemacht; es kommt später noch mal jemand, um deine aufzunehmen.«
Diese Runde hatte sie verloren. »Ich hoffe, du hast Recht«, sagte sie nach einer Weile.
»Ich weiß, dass ich Recht habe.« Er stemmte die Fäuste in die Hüften. »Jill, du bist völlig am Ende.
Hier.« Er griff in die Brusttasche und reichte ihr eine Visitenkarte. »Geh zu Dr. McFee. Du musst mal abschalten, Jill. Du kannst doch gar nicht mehr klar denken.«
»Du verlangst, dass ich jetzt aussteige? Wo ich so kurz davor bin, die Wahrheit über Kate zu erfahren -
und über deine Familie?« Jill war wütend. »Das ist nicht das erste Mal, dass du dich da einmischst - und wir wissen beide, warum.«
»Verdammt noch mal!«, brüllte er. »Hier gibt’s keine Verschwörung, und was Kate vor neunzig Jahren passiert ist, ist nun mal passiert. Du kannst sie nicht wieder lebendig machen. Wenn sie ermordet wurde, kannst du ihren Mörder nicht vor Gericht bringen. Hör auf damit, bevor du dich - und alle anderen auch - um den Verstand bringst!«
Jill erschrak über seinen Ausbruch. »Das kann ich nicht. Ich muss wissen, was mit Kate passiert ist. Ich glaube, ich weiß es sogar schon.« Diesmal zögerte sie nicht. »Edward hat sie umgebracht, weil sie seiner Heirat mit Anne im Wege stand.« Ihr Herz pochte schmerzlich bei diesen Worten. In ihren Träumen war ihr Edward sehr verliebt erschienen - nicht wie ein 559
eiskalter Mörder. Aber das waren nur Träume. Sie musste sich jetzt auf ihren gesunden Menschenverstand verlassen, nicht auf ihre Vorstellungskraft. Jill hatte mehr Porträts von Edward gesehen, als sie zählen konnte, sie hatte seine Briefe und Anweisungen an seine Angestellten und seine Familie gelesen, und es stand außer Frage, dass er ein hartherziger, kalter Mann gewesen war.
Er starrte sie immer noch unverwandt an. »Du solltest nach Hause gehen. Es war ein Fehler, wieder nach London zu kommen.«
Seine Worte trafen sie völlig überraschend und mit voller Wucht. Sie fühlte sich, als hätte er ihr ein Messer in den Rücken gejagt.
»Und ich habe das nicht so gemeint, wie du es jetzt auffasst«, fügte er ärgerlich hinzu.
Jill schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht nach Hause. Nicht jetzt - nicht, bevor ich hiermit fertig bin.«
Sie starrten sich schweigend an.
»Okay«, sagte Alex schließlich grimmig. »Ich muss los, Jill.« Er sah auf die Uhr. »Ich ruf dich später an, um zu sehen, wie’s dir geht. Überleg dir noch mal, ob du nicht doch zu diesem Arzt gehen willst. Er wird dich gleich drannehmen, und du kannst ihm alles erzählen. Er wird dir zumindest etwas geben, damit du schlafen kannst.«
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Jill nickte, um ihn zufrieden zu stellen. Sie wollte sich darum jetzt nicht kümmern.
Er hatte seine Aktentasche vom Tisch genommen.
Plötzlich kam er zu ihr herüber und küsste sie auf die Wange, bevor er die Küche verließ.
Sie spürte die Berührung seiner Lippen noch, nachdem er gegangen war, ebenso wie der würzige Duft seines Aftershaves sie noch umfing. Jill ging soweit wie möglich in Richtung Wohnzimmer und sah ihn das Haus verlassen. Sie wandte sich ab, und wie ein schweres Gewicht senkte sich Depression auf sie nieder. Oder war es Angst?
Jill setzte sich wieder an den Tisch und schaute kurz auf die Karte, die er ihr gegeben hatte, ohne sie wirklich zu lesen. Sie konnte hören, wie sein Lamborghini draußen röhrend zum Leben erwachte.
Etwas Schreckliches war mit Kate geschehen, und nun, neunzig Jahre später, wurde sie ziemlich deutlich davor gewarnt, weiter nachzubohren. Jill holte tief Luft, sie wurde überwältigt von dem Gefühl, das sie schon in Stainesmore überfallen hatte - dass als Nächstes ihr etwas Schreckliches passieren würde.
Weil so viel auf dem Spiel stand .
Jill zuckte beim Klang von Kates Stimme zusammen, die so laut und deutlich in ihrem Kopf erklang, als stünde Kate hier bei ihr im Zimmer. Aus den Augenwinkeln sah sie etwas. Jill blickte auf und erstarrte.
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Kate stand an der Hintertür und starrte sie an.
Jills Herz raste. Sie schüttelte ihren Kopf und blinzelte. Und als sie die Augen wieder öffnete, war Kate verschwunden.
27. April 1908
»Ist
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