Kates Geheimnis
regnen. Aus den Augenwinkeln sah sie den Landrover in der Einfahrt stehen. Verdammt!
Selbst wenn der Pfarrer für sie log, würde Alex wissen, dass sie hier war. Ein beengendes Gefühl der Panik erfasste sie und nahm ihr die Luft, während sie über die Wiese hinter der Kirche rannte.
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Sie glaubte, ihn kommen zu hören, nicht weit hinter ihr.
Jill hatte die Mauer erreicht, die parallel zur Straße verlief. Ohne zu zögern, sprang sie hinauf, wälzte sich darüber, sprang und landete auf Händen und Knien auf der anderen Seite. Steine und Wurzeln gruben sich in ihre Hände. Schnell sprang sie auf die Füße.
Sie bekam zu wenig Luft und war schweißgebadet.
Jill wagte einen hastigen Blick über die Schulter, aber es schüttete jetzt, und sie konnte Alex nicht sehen.
Es war egal. Sie wusste, dass er da war. Sie konnte spüren, dass er sie verfolgte.
Hatte Kate dasselbe erlebt? War sie so vor Edward davongelaufen?
Plötzlich meinte Jill, einen Motor zu hören.
Sie rannte zur Straße, spitzte die Ohren, hörte aber zunächst nur ihren rasenden Herzschlag und ihren schweren, keuchenden Atem. Dann hörte sie es - jetzt lauter - sie war ganz sicher. Ein Auto kam aus nördlicher Richtung, von da, wo sie eben hergekommen war.
Jill fuhr herum, sah aber nichts von Alex. Sie wartete, zitternd wie Espenlaub, bis sie in der Dunkelheit die Scheinwerfer entdeckte. Sie begann, verzweifelt mit den Armen zu winken, denn sie wagte es nicht, laut zu rufen. Ein kleiner Lieferwagen erschien. Jill überlegte, ob sie sich einfach mitten auf 677
die Straße stellen sollte, aber der Wagen war ziemlich schnell, und sie fürchtete, bei diesem Regen überfahren zu werden. Sie sprang auf und ab, winkte verzweifelt und Tränen liefen ihr über die Wangen, während sie betete, dass das Auto anhalten, der Fahrer sie reinlassen und in Sicherheit bringen würde.
Er sauste an ihr vorbei.
Oh Gott! Jill überlegte nicht lange. Sie raste über die Straße, wobei ihre Schritte auf dem Teer schrecklich laut klangen, kletterte über die nächste Mauer und fand sich auf dem Friedhof wieder.
Coke’s Way. Da könnte sie sich verstecken - es war nicht weit. Jill rannte durch das Labyrinth aus Grabsteinen, durch den Nebel, der aus dem feuchten Boden dampfte, sie rutschte auf nasser Erde und glitschigem Gras, wich den dunkleren Schatten der verkrüppelten Bäume und Büsche aus, schaute immer wieder über die Schulter zurück. Und dann hörte sie ihn.
Starr vor Angst drehte sie sich um, aber nun hörte sie nur noch Wind und Regen. Sie fuhr wieder herum und rannte weiter - doch plötzlich verschwand der Boden unter ihren Füßen.
Jill fiel.
Es war ein schlimmer Sturz, in ein großes Loch im Boden.
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Sie landete hart auf Hintern und Händen, so dass ihr einen Moment lang die Luft wegblieb. Sie war in eine tiefe Grube gefallen.
Matschige Erde glitschte durch ihre Finger, und im nächsten Moment schauderte es sie fürchterlich. Sie hatte verstanden. Sie war in ein Grab gefallen.
Jill sprang auf, ihr Atem ging keuchend, zu laut, und sie fürchtete, dass Alex sie jetzt einholen würde.
Was würde er dann tun? Glücklicherweise lag der Rand der Grube auf Augenhöhe - sie war nicht so tief, wie sie befürchtet hatte. Angst und Adrenalin verliehen Jill ungeahnte Kräfte. Sie schaffte es, sich aus dem Grab zu hieven, indem sie sich zusätzlich mit den Füßen an der erdigen Wand hochstieß.
Als sie draußen war, legte sie sich erst einmal flach auf den Bauch und rang nach Luft. Aber sie durfte keine Zeit verlieren. Sie stand auf - und merkte, dass sie in dem gerade ausgehobenen Erdhaufen gelegen hatte. Ihr Blick fiel auf den kleinen, kaum auszumachenden Grabstein hinter der Grube.
Einen Moment lang starrte sie ihn an, reglos vor Schreck. Eine Sekunde später kniete sie davor und beugte sich über den winzigen, kaum noch vorhandenen Stein, der Kates Grab markierte.
Jill war wie gelähmt. Kates Grab war geöffnet worden. Jemand hatte Kates Grab geschändet.
War das wirklich seine Absicht gewesen?
»Jill!«
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Beim Klang von Alex’ Ruf schnappte Jill nach Luft.
»Jill! Jill! Wo bist du?«
Er war noch ein gutes Stück entfernt. Weiter, als sie gedacht hatte - vielleicht noch auf der anderen Straßenseite. Aber er war groß und kräftig - er konnte den Abstand zwischen ihnen in Sekunden schließen.
»Jill.«
Jill rannte. Sie verließ den Friedhof und sah das Landhaus mit seinen zwei Schornsteinen als dunklen Schatten vor sich aufragen.
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