Kates Geheimnis
Aber sie konnte sich einfach nicht beruhigen.
Kate begann auf und ab zu gehen, steckte den Brief wieder ein und sah nervös auf die Uhr auf dem marmornen Tisch. Es war fast zehn Minuten vor drei.
Vielleicht war sie so verstört, weil Anne sie nicht nur sehen, sondern auch abholen wollte. Das ergab keinen Sinn. Wo wollte Anne denn hin? Warum sollten sie sich nicht ungestört bei Kate zu Hause unterhalten?
Und der Tonfall des Briefes stand in solchem Widerspruch zu Annes hasserfüllten Worten am vorigen Abend.
Was, wenn es eine Falle war?
Kate erstickte ihren Aufschrei mit einem behandschuhten Handrücken. Sie musste wohl verrückt werden, wenn sie eine Falle fürchtete - was für eine Falle sollte das überhaupt sein? Vielleicht war Anne, wie sie selbst, die ganze Nacht aufgeblieben, weil sie alles so sehr bedauerte.
Vielleicht wollte sie wirklich eine Lösung für ihr Dilemma finden. Kate musste das einfach glauben.
Sie wollte das glauben, verzweifelt sogar.
»Madam.« Peters Amme trat zu ihr, das eingewickelte Baby auf dem Arm. »Wir sind so 684
weit.« Ihr übliches Lächeln brachte sie nicht zu Stande. In den Augen der Französin standen Mitleid und Sorge, als sie Kate ansah.
»Lass mich ihn halten«, flüsterte Kate, überwältigt von Traurigkeit. Sie war so erdrückend, als sollte sie ihren Sohn niemals wiedersehen. Aber das war ja absurd. Sie würde eine Spazierfahrt mit Anne machen und zum Abendessen wieder hier sein.
Mit tränenverschleierten Augen drückte Kate Peter an ihre Brust. Sie wiegte ihn in den Armen und betrachtete das engelsgleiche Gesichtchen ihres schlafenden Kindes. Sie konnte schon Anzeichen dafür erkennen, dass er seinem Vater sehr ähnlich sehen würde. Wie glücklich sie das machte.
Schließlich gab Kate Madeline das Baby zurück.
»Madame. Wie lange sollen wir bei der Gräfin bleiben?«
Kate sah sie an. Tat sie das Richtige, indem sie Peter zu seiner Großmutter schickte? Sie hatte plötzlich einen heftigen Drang danach verspürt, kurz nachdem sie Annes Brief gelesen hatte. Im Hause der Collinsworths, unter dem Schutz der Gräfin würde Peter in Sicherheit sein. Daran zweifelte Kate keinen Moment. »Bis ich wieder zu Hause bin«, sagte Kate und schluckte. »Ich denke, ich werde zum Abendessen zurück sein.«
Kate konnte wirklich nicht sagen, was sie dazu trieb, Peter zu seiner Großmutter zu schicken. Sie 685
sagte sich, dass die Gräfin sich auf der Stelle in ihn verlieben und ihre Meinung über ihre Heirat mit Edward ändern würde. Vielleicht war die Gräfin ihre letzte Hoffnung.
»Dann guten Tag, Madam«, sagte Madeline.
Impulsiv küsste Kate erst sie auf die Wange, dann Peter. Er wachte auf und lächelte sie schläfrig an.
Seine Augen waren strahlend blau.
Kate fühlte Panik aufwallen. Aber sie winkte ihnen zum Abschied und stand dann in der Tür, um der kleinen Kutsche nachzusehen. Tränen strömten ihr übers Gesicht.
Kate beobachtete atemlos die Straße und wartete auf Anne. Sie hörte die Kutsche, bevor sie sie sah.
Der Wagen der Bensonhursts kam die Straße entlanggerollt und blieb vor Kates Haus stehen. Kate holte tief Luft. Jetzt, da Anne hier war, hätte sie sich am liebsten umgedreht, um wegzulaufen. Aber sie nahm all ihren Mut zusammen, schalt sich eine dumme Närrin und eilte aus dem Haus. Jetzt also sollten sie ihren Streit endgültig begraben.
Ein Diener öffnete ihr die Kutschentür. Kate hielt inne, denn neben Anne saß Lady Bensonhurst.
»Komm doch herein, Kate«, sagte Anne mit eigenartig hoher, schriller Stimme.
Kate hätte fast abgelehnt; fast hätte sie sich umgedreht und wäre zurück in die Sicherheit ihres Hauses geflohen. Aber sie konnte nicht so 686
weiterleben, krank vor Angst und Panik, und sich vor ihrem eigenen Schatten fürchten. Kate kletterte in die Kutsche.
Die Tür ging zu.
Kate saß Annes Mutter gegenüber, und als die Kutsche anfuhr, erwartete sie eine scharfe, hasserfüllte Attacke. Zu ihrer Überraschung saß Annes Mutter steif und bleich in Fahrtrichtung, die Hände im Schoß gefaltet. Sie wirkte nervös. Sie wirkte ängstlich. Sie schien sich zu wünschen, überall anders auf der Welt zu sein als hier, in der Kutsche mit Kate. Und sie konnte Kate nicht in die Augen sehen.
»Also schön.« Annes Kiefer spannte sich. Sie zog eine kleine Pistole aus ihrer Handtasche und richtete sie auf Kate.
Kate blieb das Herz stehen. In diesem Augenblick sah sie ihr ganzes Leben vor sich - jeden einzelnen glücklichen,
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