Kates Geheimnis
drehte sie es um und schnappte nach Luft. Jemand hatte etwas auf die Rückseite geschrieben. Neugierig sah Jill genauer hin. Ihre Augen weiteten sich, als sie laut vorlas: »Kate Gallagher und Anne Bensonhurst, Sommer 1906.« Das war Hals Handschrift.
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Sie konnte sich nicht irren. Jill war starr wie ein Eiszapfen. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Aber ihr Nachname war Gallagher - und Hals letztes Wort, sterbend an sie gerichtet, war »Kate«
gewesen.
Sie starrte zitternd auf das Foto.
Dies war zweifellos nur ein wirklich eigenartiger Zufall, sonst nichts. Jill sagte sich mahnend, dass Hal sie geliebt hatte, dass er es ihr gesagt hatte, bevor er starb, und dass dieses Bild nichts mit jener Frau namens Kate zu tun hatte, die wahrscheinlich nur seine Anwältin oder etwas Ähnliches war. Jill drehte das Bild wieder um. Wer waren diese Frauen und warum hatte ihre Fotografie Hal so viel bedeutet, dass er etwas auf die Rückseite geschrieben und das Bild an sein Bett gestellt hatte?
Sie spürte Bitterkeit in sich aufsteigen, gegen die all ihre beruhigenden Einwände nichts ausrichten konnten. Eigenartigerweise fühlte sie sich unwohl und wünschte, sie hätte diesen Raum nie betreten.
Trotzdem starrte sie weiter auf das Bild. Beide Frauen hatten dunkles Haar und helle Haut. Natürlich hatten sich die Damen zu jener Zeit nicht der Sonne ausgesetzt. Eine der beiden war weder besonders schön noch unscheinbar; trotz ihrer klassischen Züge verblasste sie irgendwie neben der anderen Frau, die kühn und bemerkenswert wirkte. Es war diese andere junge Frau, die plötzlich Jills ganze Aufmerksamkeit für sich einnahm.
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Jill konnte den Blick nicht abwenden. Sie war wie gebannt. Diese Frau hatte etwas Unwiderstehliches an sich. Etwas Außergewöhnliches. Sie war schön, aber nicht im klassischen Sinne. Ihre Nase war gerade und fast römisch geschnitten, ihr Unterkiefer zu kräftig, ihre Wangenknochen sehr hoch - und auf der rechten Wange saß eindeutig ein Leberfleck. Jill glaubte, dass es nicht ihr Aussehen war, was sie so faszinierend machte. Vielleicht war es der Ausdruck in ihren Augen. Sie waren dunkel und sprühten vor Intelligenz, Energie und Lebensfreude, und Jill gewann den Eindruck, dass diese Frau vergnüglich auf ein großes Geheimnis anspielte.
Die Frau mit dem Schönheitsfleck starrte aus dem Bild zurück. Jill erkannte nun den Anflug eines Lächelns um ihren Mund, und ihre Augen schienen Jill herauszufordern ... zu was?
»Was glauben Sie eigentlich, was Sie hier zu suchen haben?«, fuhr eine barsche Stimme sie von hinten an.
Jill schrie auf und ließ das Bild fallen.
»Ich will wissen, was Sie hier zu suchen haben«, wiederholte Alex, der in der Tür stand. Und er schaltete die übrigen Lichter an.
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Zwei
J ill legte eine Hand an ihr wie verrückt rasendes Herz. »Haben Sie mich erschreckt«, sagte sie.
»Entschuldigung. Ich habe nicht erwartet, hier jemanden anzutreffen.« Alex kam ins Zimmer. Sein Gesichtsausdruck, noch vor wenigen Augenblicken unmissverständlich, war nun schwer zu deuten.
»Also, was machen Sie hier?« Der Blick seiner blauen Augen war ausgesprochen unangenehm direkt.
Jill zögerte. »Ich konnte nicht schlafen.«
Seine Augen blieben in ihre gebohrt. »Dies ist Hals Zimmer. Wie haben Sie es gefunden?«
Jill wurde rot. »Ganz zufällig. Es tut mir Leid, wenn ich Sie mit meiner Herumschleicherei geärgert habe.«
»Sie sind ein Gast in diesem Haus - keine Gefangene. Aber es ist das Privathaus einer Familie.«
Es war klar, was er ihr sagen wollte - sie hätte die Familie in noch mehr Aufruhr versetzen können.
»Ich wusste, dass Hals Zimmer im ersten Stock war«, fuhr Jill nervös fort. »Als ich nicht einschlafen konnte, bin ich hinuntergegangen, um mir einen Drink zu machen. Ich bin einfach irgendwie hier 72
hinaufspaziert. Ich wollte niemanden stören - und das habe ich auch nicht - bis jetzt jedenfalls.«
Er betrachtete sie eindringlich und gab keine Antwort. Jill konnte seine Gedanken nicht erraten.
Das und seine ausgiebige Musterung machten sie noch unruhiger. Aber sie bekam ihrerseits Gelegenheit, sich ihn genau anzusehen. Er hatte seine Anzughose gegen eine sehr abgetragene, verwaschene Levis getauscht. Sie saß wie angegossen um seine schlanken Hüften. Und er trug einen watteweichen gelben Kaschmirpulli, der sehr teuer aussah. Es gab nicht viele Männer, die ein solches Kanariengelb tragen konnten.
Jill schaute als erste weg. Überall traf
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