Kates Geheimnis
Sie? Ich glaube, ich habe tatsächlich gefunden, wonach Sie suchen.«
Jill fuhr hoch, merkte, dass sie eingeschlafen war, und war einen Moment lang schrecklich verwirrt, weil eine unbekannte, junge, attraktive Frau mit viel zu großer Brille sie gespannt anstarrte. Sie versuchte sich zu orientieren, erinnerte sich, wo sie war und warum, aber ihr überfordertes Gehirn fühlte sich so taub an, dass es nur in die tiefe Umarmung des Schlafs zurücksinken wollte.
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Jill blinzelte plötzlich, als ihr klar wurde, was Katherine da gesagt hatte.
»Sind Sie wach?« Katherine lächelte nicht, aber die blauen Augen hinter den dicken Gläsern schauten sie sehr aufmerksam an.
»Ja.« Jill schob sich den Pony aus dem Gesicht.
»Ich habe geschlafen.«
»Ja, das haben Sie, tief und fest. War offenbar dringend nötig. Ich habe die Gesellschaftskolumnen von 1906 durchgesehen. Sie müssen sich anschauen, was ich gefunden habe.« Sie lächelte immer noch nicht, aber ihre Augen glänzten aufgeregt.
Jill nahm die kopierte Seite entgegen.
»Das ist aus dem Herald «, erklärte Katherine.
»Hier.« Sie zeigte auf eine Meldung, nur einen Absatz lang, in der Mitte der Seite.
Sie war nur wenige Zeilen lang, eingequetscht zwischen anderen, ähnlich knappen Meldungen. »Die amerikanische Erbin Kate Gallagher aus New York City, soeben in Begleitung ihrer Mutter, Mrs. Peter Gallagher, in London angekommen, weilt als Gast bei Lord und Lady Jonathan Bensonhurst. Miss Gallagher wird anlässlich des Fairchild-Balles am Donnerstag, dem ersten Oktober, mit Lady Anne Bensonhurst debütieren.«
Zitternd und jetzt hellwach, las Jill die Zeilen noch einmal durch. Sie sah nach dem Datum oben auf der 115
Seite. Die Zeitung war vom sechsten September 1906.
Ihre Gedanken überschlugen sich.
Kate kam aus New York, wie ihre eigene Familie.
Ein Zufall? Sie
war kürzlich mit ihrer Mutter nach London gekommen. In Jills Kopf drehte sich alles. Kates Vater hieß Peter. Genauso wie Jills Großvater.
Eigenartig! Das musste ein weiterer Zufall sein.
Waren das nicht schon zu viele Zufälle? Und wie passte Hal in dieses Mosaik?
Und während Jill auf die Seite starrte, verschwammen die Worte und Buchstaben vor ihren Augen. Sie verstand den Sinn dieser Sätze nicht mehr, sondern sah stattdessen die beiden jungen Frauen deutlich vor sich, so lebhaft, als stünde sie wirklich vor ihnen.
Sie steckten die Köpfe zusammen, der eine Schopf nachtschwarz, der andere leuchtend rot. Anne und Kate waren die besten Freundinnen, und sie lachten und kicherten, während sie Stoffe und Accessoires für die Kleider aussuchten, die sie auf dem Ball tragen wollten. Sie hatten ihr ganzes Leben noch vor sich und waren erfüllt von Träumen und Hoffnungen auf eine strahlende Zukunft.
Und plötzlich starrte Jill wieder auf den kleinen schwarzweißen Artikel. Gütiger Himmel. Die Vision war kurz gewesen, aber so stark, dass es Jill fast so vorkam, als sei sie in die Vergangenheit gereist, in eine andere, eine wunderschöne Zeit.
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Etwas Merkwürdiges geschah mit ihr. Mit jedem Atemzug spürte sie, dass dies der wichtigste Moment ihres Lebens war. Es war mehr als die Sehnsucht danach, eine Familie zu haben - die hatte Jill immer empfunden. Es kam ihr vor, als habe ihr ganzes Leben sie zu diesem Augenblick hinführen wollen: damit sie herausfand, wer Kate Gallagher war.
Einer der vielen Bediensteten des Hauses ließ Jill herein, als sie schließlich von der Bibliothek kam. Es war fast acht Uhr und sehr still im Haus. Wenn die Sheldons nach der Beerdigung Besuch gehabt hatten, waren jetzt alle Gäste gegangen, und Jill nahm an, dass alle Familienmitglieder sich in ihre Zimmer zurückgezogen hatten.
Sie war erleichtert.
»Miss Gallagher, ich soll Ihnen ausrichten, dass es heute kein gemeinsames Abendessen geben wird, aber ich kann Ihnen Ihr Essen aufs Zimmer bringen.«
»Das wäre großartig«, antwortete Jill ehrlich. Sie war immer noch hungrig, und sie wollte nur etwas essen und dann ins Bett fallen. »Wie heißen Sie?« Sie lächelte ihn an.
»Jamieson. Darf ich Ihnen etwas bringen?«, fragte er pflichtbewusst.
»Etwas zu essen wäre toll. Ich gehe einfach schon nach oben, danke.« Jill sah ihm nach, als er in einen Korridor verschwand, der zweifellos zur Küche und 117
anderen Arbeitsräumen führte. Sie wollte sich gerade auf den Weg nach oben machen, um nicht doch noch einem der Sheldons zu begegnen, als sie plötzlich wünschte, sie hätte Jamieson auch um
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