Kates Geheimnis
ein Glas Wein gebeten. Da sie sich in der vergangenen Nacht schon selbst bedient hatte, zögerte sie nicht.
Das Wohnzimmer lag direkt auf der anderen Seite des Foyers. Die großen Türen standen weit offen, und der Raum war erleuchtet, aber leer. Sie konnte kaum glauben, dass sie hier erst gestern - vor gerade mal vierundzwanzig Stunden -
Hals exzentrischer
aristokratischer Familie gegenübergestanden war.
Es war noch viel schwerer zu begreifen, dass sie ihn heute beerdigt hatten.
Rasch durchquerte Jill die Eingangshalle, betrat den Salon und ging geradewegs zu dem Barwagen hinüber. Sie goss sich schnell einen Scotch ein, diesmal mit Eis, und nahm ein paar kleine Schlucke.
Während der Alkohol Trauer und Sorgen dämpfte, schaute sie sich um. Scotch, entschied sie, war gar nicht übel.
Sie hatte vorher nie auf die Einzelheiten des Raumes geachtet. Das Wohnzimmer bot ein halbes Dutzend verschiedener Sitzecken, ein Dutzend herrlicher französischer Aubusson-Teppiche, und jedes einzelne Möbelstück war eine wertvolle Antiquität. Einige der
Tischchen hatten Marmorplatten, die meisten Stühle vergoldete Lehnen oder Beine. Sie blieb stehen.
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Wieder betrachtete sie den Matisse an einer der Wände und bemerkte dann den Chagall-Druck daneben.
Ein riesiges Landschaftsgemälde hing an der nächsten Wand. Jill konnte nicht sagen, von wem es stammte, zweifelte aber nicht daran, dass es ein bedeutendes Werk war. Sie ging näher heran. Es war ein Corot.
Jill hatte die riesige Kluft zwischen ihrer und Hals Welt schon akzeptiert. Wieder fragte sie sich grimmig, was Hal sich nur dabei gedacht haben mochte. Was, wenn seine Familie Recht hatte - und sie für Hal nur ein Abenteuer gewesen war?
Jill wollte diesen Gedanken nicht weiterverfolgen.
Aber vielleicht war es ein schrecklicher Fehler gewesen, nach England zu kommen. Sie hatte hier Dinge erfahren, Dinge gesehen, von denen sie lieber nichts gewusst hätte.
Sie dachte an Marisa. Wie hatte sie bloß zu Hal gestanden?
Und plötzlich war Jill wütend. Sie war wütend auf Hal, weil er tot war und ihr die Antworten nicht mehr geben konnte, die sie von ihm haben wollte. Doch wütend auf jemanden zu sein, der tot war - auf jemanden, den sie so sehr geliebt hatte - erschien ihr furchtbar falsch.
»Wo warst du die ganze Zeit?«
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Jill fuhr herum. Alex kam herein, er trug wieder seine alte Jeans und dazu einen roten Kaschmirpullover mit V-Ausschnitt. Jill hatte ihn nicht kommen hören. Als sie bemerkte, dass er wieder barfuss ging, versuchte sie zu lächeln. Es fühlte sich wackelig an. »Tolles Bild.«
Alex lächelte kaum wahrnehmbar zurück. »Ja, das ist es. Ich selbst habe William überredet, dafür zu bieten, letztes Jahr bei Sotheby’s. Du bist nach der Beerdigung nicht zurückgekommen.«
Jill zuckte mit den Schultern, um die Spannung abzuschütteln, die
sich dort in den letzten Minuten eingenistet hatte -
in den letzten Tagen. »Nein. Kannst du mir das verdenken?«
»Ich schätze, nein«, erwiderte er nach kurzem Zögern.
»Ist Marisa noch hier?«, erkundigte sich Jill. Es klang ein wenig gehässig.
»Nein. Sie ist schon vor Stunden gegangen. Sie ist völlig am Boden zerstört.« Falls er den Sarkasmus in ihrer Stimme bemerkt hatte, ging er darüber hinweg.
Als Alex an ihr vorbei zu dem Barwagen voll kristallener Karaffen und silberner Utensilien schritt, streifte sein Arm zufällig ihren. Jill sah zu, wie er sich einen Wodka on the rocks eingoss. Er hatte nicht den Wodka aus einer der Kristallkaraffen genommen, 120
sondern eine Flasche Keitel One vom unteren Tablett des Wagens.
Jill wandte ihm den Rücken zu und betrachtete wieder den Corot. Sie konnte sich nicht einmal vage vorstellen, was er gekostet haben mochte. Vielleicht ein paar Millionen, dachte sie. Während sie die leuchtende Landschaft anschaute, war sie sich Alex’
Gegenwart in jeder Sekunde bewusst. Sie hatte etwas trinken wollen, aber sie hatte keine Gesellschaft gesucht - und ganz bestimmt nicht seine. »Wohin bist du nach der Beerdigung gegangen?«, fragte Alex.
Jill drehte sich langsam zu ihm um. Sie setzte sich nicht, denn sie hatte die Absicht, schnellstmöglich mit ihrem Drink in ihr Zimmer zu entkommen. »In die British Library.« Der Gedanke an Kate und Anne beschleunigte ihren Puls. Sofort übernahm ihre Fantasie das Ruder, und wieder konnte sie die beiden Mädchen genau vor sich sehen. Diesmal standen sie in ihren festlichen Kleidern, die Augen in ängstlicher Erregung
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