Katharsia (German Edition)
rings um das Podest drängten sich Festgäste in Abendgarderobe. Sie standen in Gruppen, debattierten und lachten. Einige Paare nutzten die wenigen Freiräume dazwischen, um zu tanzen. Bin Dschamal bat Vitelli um Erlaubnis, ihn und seine Begleiter allen Ballgästen vorstellen zu dürfen.
„Selbstverständlich. Wenn Sie als Hausherr es wünschen …“, antwortete Vitelli generös.
„Können wir nicht noch ein wenig damit warten?“, bat Sando. „Ben müsste bald hier sein.“
Karim Bin Dschamal betrachtete den Jungen mit Wohlgefallen. „Kein Problem, junger Auvisor.“
Er winkte einem Bediensteten in Livree, der ein Tablett voller dampfender Tässchen durch die defilierenden und tanzenden Ballgäste jonglierte.
„Ein Pfefferminztee wird uns guttun“, sagte er und reichte jedem ein Getränk, das aus frischen, grünen Minzeblättern zubereitet war und ein angenehm würziges Aroma verströmte.
„Wie ist das eigentlich – Seelen sehen?“, wandte er sich dann neugierig an Sando. „Ich kann es mir nicht vorstellen. Wie sehen sie überhaupt aus?“
Sando zuckte die Schultern. „Wie sollen sie aussehen? Wie Menschen eben. Nur ein bisschen durchsichtiger.“
„Noch durchsichtiger als wir? Kannst du etwa durch mich hindurchsehen?“ Er lachte und drohte scherzhaft mit dem Finger. „Es würde mich nicht wundern. Wer weiß, wie ein Auvisor die Welt sieht …“
„Nein, nein“, erwiderte Sando grinsend. „Sie müssen keine Angst haben, dass ich Sie sofort durchschaue. Obwohl es nicht schlecht wäre, wenn ich es könnte …“
„Schlagfertig ist er obendrein! Alle Achtung, mein Junge!“, rief Karim Bin Dschamal aus. Er hob das Tässchen zum Mund und schlürfte von seinem Tee.
Sando tat es ihm gleich. Der aromatische Duft stieg ihm in die Nase. Er hatte das Gefühl, freier atmen zu können.
Bin Dschamal nahm den Gesprächsfaden wieder auf. „Und hören kannst du die Seelen auch, nicht wahr? Wie klingen denn ihre Stimmen?“
„Ich vergleiche es mit dem Zirpen von Grillen.“
„Zikaden?“
„So ähnlich, ja. Nur nicht so laut wie Zikaden. Man muss schon genau hinhören, um Seelen verstehen zu können.“
„Bei dem Lärm hier im Saal hättest du keine Chance, mit einer Seele zu sprechen, nicht wahr?“
„Genau. Sie sagen es.“
„Interessant. Wirklich interessant. Vielleicht sollten wir einen Artikel veröffentlichen: Wie ein Auvisor mit Seelen spricht “, sinnierte der Chefredakteur, während sich Sando suchend umblickte.
Er vermisste Massef. Wo steckte er? Wieso hatte der Reporter sie nicht in Empfang genommen?
„Suchst du jemanden?“, fragte Bin Dschamal.
„Ja, Herrn Massef, Ihren Reporter.“
„Das habe ich befürchtet.“ Bin Dschamal sah plötzlich aus, als plagten ihn Zahnschmerzen. „Ich verstehe auch nicht, warum Massef nicht hier ist. Von ihm kam der Vorschlag, euch zu dem Ball einzuladen. Er hat sich förmlich darum gerissen, sich um euch zu kümmern – und nun?“
Sando beschlich ein ungutes Gefühl.
„Es wird ihm doch nichts zugestoßen sein?“
„Ach was!“, wehrte der Chefredakteur ab. „Bestimmt ist ihm eine heiße Geschichte in die Quere gekommen. Ich kenne ihn. Massef ist ein Vollblutreporter. In so einem Fall vergisst er alles andere.“
„Hoffentlich ist es so.“
Sando war nicht recht überzeugt. Auch Gregor und Nabil, die dem Gespräch gelauscht hatten, hielten mit ihrer Besorgnis nicht hinterm Berg.
„Vielleicht steckt er in irgendwelchen Schwierigkeiten“, sagte Gregor und Nabil setzte hinzu: „Wer weiß, wem er bei seinen Nachforschungen auf die Füße getreten ist.“
Bin Dschamal horchte auf. „Was für Nachforschungen? Wissen Sie, woran Massef arbeitet?“
Nabil merkte, dass er wohl zu viel gesagt hatte. Offenbar hatte ihr Freund seinen Chef nicht darüber informiert, dass er nach dem verschwundenen Retamin-Key suchte.
Massef traut ihm nicht über den Weg , dachte Nabil und versuchte, den Fehler wieder gutzumachen.
„Wieso wir?“, fragte er unschuldig. „Ich dachte nur, Reporter stecken immer in irgendwelchen Recherchen. Sie als sein Chef müssten doch wissen, was er treibt.“
„Schön wär’s …“, entgegnete Bin Dschamal seufzend. „Aber gute Reporter sind immer etwas eigensinnig. Massef weiht mich meist erst dann ein, wenn eine Geschichte steht.“
Sie kamen nicht dazu, das Thema weiter zu vertiefen. Ben tauchte auf und begrüßte seine Gefährten, als hätte er sie lange nicht gesehen. Dann stellte er sich dem
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