Katharsia (German Edition)
schwang sich auf in wütenden Arpeggien, schien abzuheben und davonzustürmen, um am Ende still herabzuschweben, besänftigt von der Anmut, die nun das Zepter in der Musik übernahm. Neben ihm Maria, bleich, erschüttert, die Hände auf den Tasten, als wollte sie spielen. Doch ihre Finger rührten sich nicht.
„Die Wachen! Sie kommen!“
Nur langsam drang Bens Ruf in das Bewusstsein des Jungen vor.
„Sando, flieh! Sie kommen!“
Endlich sprang er auf.
Doch die Musik brach nicht ab. Marias Finger waren in Bewegung geraten. Sie spielte wie in Trance.
Wo war ein Versteck?
Der Vorhang!
Gerade so!
Die Tür flog auf. Zwei Wachmänner standen im Raum und blickten hilflos auf Maria, die einsam und weltvergessen musizierte. Ihr Spiel kam ins Stocken, klang wie eine gesprungene Platte. Ein kurzes Motiv. Immer wieder hackte sie es in den Flügel. Ein Akt der Verzweiflung. Dann ein schriller Missklang. Ihr Kopf war auf die Tastatur geschlagen. Langsam rutschte sie zu Boden. Einer der Wachleute sprang herzu und verhinderte, dass ihr Kopf aufschlug.
„Wusstest du, dass sie Klavier spielt?“
„Nein. Davon war nie die Rede, verdammt!“
„Es scheint sie furchtbar aufzuregen.“
„Wer weiß, was mit ihr los ist.“
Die Frau in Schwarz kam herein. „Wo ist denn der junge Herr?“, fragte sie.
Die Männer wurden hellhörig. „Was für ein junger Herr?“
„Na der, der eben Klavier gespielt hat.“
„Hier war niemand. SIE hat gespielt.“
„Das kann nicht sein, sie kann gar nicht spielen.“
„Wir haben es mit eigenen Augen gesehen, gute Frau.“
„Aber … der Junge …“, sagte die Alte ratlos.
Die Wachmänner tauschten einen vielsagenden Blick, als hielten sie die Frau schon immer für nicht ganz zurechnungsfähig.
„Na, dann werden wir mal einen Arzt rufen“, sagte der eine von oben herab.
Die Männer trabten ab.
Die Frau ging zu Maria, die bewusstlos am Boden lag, hob deren Kopf in ihren Schoß und murmelte: „Die bösen Schatten der Vergangenheit … sie werden niemals weichen …“
Sie begann, eine eintönige Melodie zu summen und, ihren Körper hin und her wiegend, Marias Kopf zu streicheln.
„Komm, wir verschwinden!“, zirpte Ben Sando hinter dem Vorhang zu.
„Und Maria?“.
„Sie bleibt hier, ganz einfach.“
„Aber sie hat mich wiedererkannt!“
„Und wenn sie aufwacht, hat sie es wieder vergessen.“
„Das glaube ich nicht.“
„Egal. Wir müssen hier weg! Und Maria kannst du nicht einfach unter den Arm klemmen und mitnehmen.“
„Aber …“
„Es reicht jetzt! Keine Alleingänge mehr, Sando!“
„Und wie soll ich ungesehen durch den Salon zur Terrassentür kommen?“, fragte Sando entnervt.
Damit hatte er Recht. Sobald er hinter dem Vorhang hervortrat, musste die Alte ihn bemerken.
Ben überlegte kurz und entschied: „Es macht nichts, wenn sie dich sieht. Die Wache glaubt ihr sowieso nicht.“
Sando schob also den Vorhang zur Seite und trat der Frau offen unter die Augen. Und wieder ließ ihn das Gefühl nicht los, dass er sie kannte.
Sie unterbrach ihren Singsang und schaute ihn an. Ihr Blick wirkte wie nebelverhangen. „Ach, da ist er doch, der junge Herr … Warum haben Sie ihr das angetan?“
„Ich habe ihr nichts angetan“, sagte Sando und näherte sich der Alten behutsam. Doch eigentlich war es Maria, die ihn anzog. Ihr bleiches Gesicht bildete einen krassen Gegensatz zu dem schwarzen Kleid der Frau, in deren Schoß ihr Kopf gebettet lag.
„Doch … Sie haben sie wieder heraufbeschworen … die bösen Schatten der Vergangenheit“, murmelte sie schwach.
Sando wollte widersprechen, ihr erklären, dass es nicht die Vergangenheit war, die Maria zu schaffen machte, sondern die Gegenwart. Doch er zog es vor, die Alte nicht aufzustacheln, sie in ihrer Lethargie zu belassen. Schweigend hockte er sich nieder und strich der bewusstlosen Maria über das Haar. Die Berührung tat ihm gut und schmerzte zugleich. Musste er sie wirklich hier zurücklassen?
„Maria“, sagte er leise.
Die Alte rührte sich. „Warum sagen Sie diesen Namen? Bitte, junger Herr, lassen Sie das!“
Ihr Körper war plötzlich gespannt. Erschrocken blickte sie Maria an, als wollte sie herausfinden, ob die Bewusstlose etwas mitbekommen hatte. Doch Maria rührte sich nicht und langsam beruhigte sich auch die Alte wieder.
Als sich die Woge geglättet hatte, fragte Sando leise: „Was ist mit diesem Namen?“
Die Alte brauchte einige Zeit, ehe sie antwortete: „Den Namen …
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