Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kathedrale

Kathedrale

Titel: Kathedrale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andy Mangels
Vom Netzwerk:
gleichen Augen hatten ihn einst von der anderen Seite des altmodischen Spiegels seines Vaters angesehen. Ihm war, als vergingen Minuten, und er zermarterte sich das Hirn nach einer Berechtigung für den sehnlichen Wunsch seiner Eltern, ihn neu zu erschaffen. Ihn zu verändern.
    Im Blick des Kleinen las er Angst, aber auch etwas anderes nicht Unterdrückbares. Dieser Junge schien weit davon entfernt, das Häuflein Elend zu sein, ohne das er laut seinen Eltern so viel besser dran wäre. Der junge Jules ähnelte eher dem aufgeweckten, wenn auch leicht lernbehinderten Doppelgänger, der sich manchmal in Julians Träume schlich wie der Geist eines ermordeten Zwillings. Julian sah ihn in vielen Nächten, seit er mit fünfzehn die Wahrheit über die Ereignisse auf Adigeon Prime erfahren hatte.
    Obwohl sich sein Intellekt und seine Wahrnehmung rapide verschlechterten, wusste Julian, dass er der simplen, objektiven Tatsache vertrauen konnte, die er im Blick des jungen Jules las: Da war Verstand in diesem Burschen, eine unermüdliche Seele mit innerem Feuer!
    Ob die wohlmeinenden Pläne seiner Eltern dieses Feuer ersticken würden?
    Plötzlich merkte er, dass sich einer der drei Adigeoner zu ihm umgedreht hatte. Das Wesen starrte ihn an, und sein gefiederter Hals reckte sich vor Zorn. »Wie kommen Sie hier rein?«
    Nun wandten sich auch die anderen beiden um. »Keine Sorge, Doktor«, sagte einer von ihnen. »Erkennen Sie ihn nicht? Das ist die ausgewachsene Version des Knaben, den wir gerade behandeln.«
    »Ich verstehe«, sagte der erste Adigeoner. Der Blick seiner lidlosen, seitlichen Augen glitt über Julians gesamten Körper. »Mir scheint, wir haben es vermasselt, nicht wahr?«
    »Ich rufe die großen Menschen zurück und lasse ihn entfernen«, sagte der dritte Mediziner. »Wer weiß schon, was aus dem Kind hier wird, falls er in unsere Prozeduren eingreift?«
    Wer weiß? , wiederholte Julian gedanklich und fragte sich, ob er je so tief gefallen wäre, wenn ihn niemand gezwungen hätte, derart hoch zu klettern. Dennoch war ihm, als müsste er wollen, was diese drei Ärzte wollten. War das nicht der einzige Grund, aus dem er hergekommen war? Wenn er sich doch nur erinnern könnte!
    Und wenn doch der flehende Blick dieses Jungen nicht wäre. Der Blick, der die ganze Situation so entsetzlich falsch wirken ließ.
    Der junge Jules saß schweigend da, doch Julian spürte, dass er nicht ins Leere starrte. Stattdessen passte er genau auf, was um ihn herum geschah.
    In einem fernen Korridor erklang dissonante Musik und hallte leise bis in den Raum. Der vordere Adigeoner trat näher. Julian konnte den Atem des Wesens riechen, ein Gemisch aus Popcorn mit Butter, Pfefferminze und tarkaleanischem Tee. »Sie sollten nicht hier sein«, sagte es.
    Julian hob den Arm – der plötzlich zitterte – und deutete auf den Jungen. Auf die Person, die er vor so langer Zeit gewesen war. Und ohne den Grund dafür zu kennen, traf er eine Entscheidung.
    »Sie sollten nicht hier sein«, wiederholte der Adigeoner und hob drohend eine seiner krallenbewehrten Hände.
    »Genau wie er«, erwiderte Julian. Dann huschte er an dem schmalen Wesen vorbei und stieß es gegen seine zwei Artgenossen. Die Adigeoner fielen zu Boden, doch er wusste, dass sie nicht lange liegen bleiben würden. Ihm blieben nur Sekunden.
    Schnell eilte er zum jungen Jules, dessen Augen sich geweitet hatten – vor Schreck, Staunen oder beidem zusammen. Er wehrte sich nicht, als Julian seine Hand nahm, ihn auf die Beine zog und mit ihm auf den Korridor hinaustrat.
    Dort hielten sie einen Moment inne und sahen sich an. »Danke«, sagte Jules.
    Julian grinste ihn an. Bedank dich bei dir .
    Dann rannten sie los, vorbei an den Pflegern, die schnell hinter ihnen zurückblieben und wütend Lollipops durch die Luft schwenkten. Vorbei an Richard und Amsha Bashir, die äußerst überrascht schienen. Doch ihre Rufe der Wut und der Verwirrung endeten, als die beiden bei ihrem Versuch, die Fliehenden zu stoppen, über einen Blumenkübel im Warteraum stolperten. Vorbei an den Maulaffen feilhaltenden Mitgliedern der Prüfungskommission der Medizinischen Fakultät der Sternenflotte. Der Vulkanier bekam vor Staunen den Mund nicht mehr zu, als Jacks Hut von seinem Kopf fiel.
    Erst als Julian Seitenstechen bekam, hielten er und sein kleiner Begleiter an, um kurz zu verschnaufen. Schweigend standen sie da, und als Julian aufblickte, war die Klinik auf Adigeon Prime plötzlich fort. Kilometerweit über

Weitere Kostenlose Bücher