Kathedrale
und obwohl hinter ihm laute Rufe erklangen, schien ihn niemand zu verfolgen. Nach einigen Minuten führte der Gang in einen weiteren Raum, eine gemütlich aussehende Lounge, in der ein Mann und eine Frau nebeneinander auf einem niedrigen Sofa saßen und lasen. Sie gaben sich sichtlich Mühe, einander zu ignorieren. Und sie waren deutlich jünger als in Julians Erinnerung – so jung, dass er sie fast nicht erkannt hätte.
Richard und Amsha Bashir. Seine Eltern. Die beiden waren so in ihre Lektüre vertieft – Vater in eine Art Blaupause, Mutter in einen Thriller in Buchform –, dass ihnen sein Erscheinen völlig entgangen war.
Und das ist kaum überraschend. Ein bitteres Lächeln schlich sich auf Julians Gesicht. Manches ändert sich eben nie. »Hallo Mutter«, sagte er. »Vater.«
Vater sah von seinen Blaupausen auf und lächelte unbehaglich. »Ah, da bist du ja, Jules.«
Mutters Lächeln stand dem seinen in nichts nach. »Wir dachten schon, du hättest dich verlaufen.«
Julian schwieg. Ich habe mich verlaufen , dachte er, bis er einige Details des Zimmers zuordnen konnte. Dieser Eckstuhl zum Beispiel. Sein graues Leder wurde aus der Haut irgendeines genetisch veränderten Tieres gewonnen. Ein Relief an der Wand zeigte eines der hier ansässigen achtbeinigen Reittiere. Erinnerungen wie diese beiden waren unter den ersten gewesen, die er je in der Hagia Sophia abgelegt hatte.
Ich bin im Wartesaal. Auf Adigeon Prime.
»Weshalb habt ihr mich wieder hergebracht?«, fragte er und sah seinen Vater an.
Dessen Stirn legte sich in Falten. »Weil es notwendig ist, Jules.«
»Du meinst, weil ich so dumm bin.«
Mutter machte ein trauriges Gesicht. Das Gesicht einer Frau, die lange schon litt. »Weil wir möchten, dass du ein glückliches, erfülltes Leben hast, Jules. Und sobald die Behandlungen abgeschlossen sind, wirst du genau das haben.«
Julian kämpfte gegen seine wachsende Verwirrung an. »Wir haben das schon mal gemacht, Vater. Als ich sechs war.«
Vater stand auf und schaute ihn missbilligend an. »Wenn ich dich jetzt so ansehe, fällt es mir schwer, das zu glauben, Jules.«
»Hör auf, mich so zu nennen!«, gab er zurück, flammenden Zorn im Herzen. »Ich bin jetzt Julian. Ich bin schon Julian, seit ich begriff, was ihr mir hier angetan habt.«
Mutter erhob sich, kam näher und ergriff seine Hände. » Bist du das denn?«, fragte sie und drehte seine Handflächen nach oben.
»Bin ich was ?«
»Bist du wirklich derselbe Julian, den wir von Adigeon Prime mit nach Hause nahmen?«
Julian sah auf seine Hände in den ihren, betrachtete sie. Es waren die Hände eines Erwachsenen, keines Sechsjährigen. Und plötzlich merkte er, dass er keinerlei Erinnerung mehr daran hatte, als Kind schon nach Adigeon Prime gekommen zu sein.
Denn er war nie hier gewesen.
Denn er hatte sich nie den »Prozeduren« unterzogen.
Denn er war nun der Erwachsene, zu dem der junge, nicht aufgewertete Jules Bashir geworden wäre, wenn man ihn in Ruhe gelassen hätte. Unverändert.
Vater warf mit sichtlicher Ungeduld einen Blick auf das Chronometer an seinem Handgelenk. »Mach dich bereit, Jules. Die Ärzte werden jetzt jeden Moment hier sein, um dich zu untersuchen.«
Für einen langen, stillen Moment dachte Julian über diese Worte nach. Bot man ihm hier die Chance, alles zurückzuerhalten, was er verloren hatte? Alles, was die fremde Kathedrale ihm geraubt hatte?
Prozeduren. Sie glauben, ohne ihre ach so tollen Prozeduren wäre ich nichts. Und vielleicht haben sie recht.
Mutters Griff wurde fester. Julian sah Tränen der Enttäuschung in ihren Augen schimmern. »Wir wollen doch nur das Beste für dich, Jules. Wir lieben dich so sehr …«
Er schüttelte ihre Hände ab. »Ganz offensichtlich liebt ihr mich nicht so wie ich bin«, sagte er, machte einen Schritt zurück und stolperte dabei fast über die eigenen Füße. Er fühlte sich langsam, ungeschickt – und entsetzlich dumm.
Am anderen Ende des Zimmers glitt eine Tür auf. Richard Bashir drehte sich um, wodurch er Julian kurzzeitig die Sicht nahm. Dann sah er zu seinem Sohn und lächelte. »Die Ärzte sind jetzt bereit für dich, Jules.«
Julian stockte der Atem. Dort in der Tür standen die zwei Schränke von Krankenpflegern, denen er eben erst entkommen war. Sie hatten ihre schinkengroßen Fäuste gegen die Hüften gestemmt, und ihr Blick strahlte pure Bedrohung aus.
Julian rannte los. Auf dem gleichen Weg, den er gekommen war.
Der Lüftungsschacht war kalt und
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