Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kathedrale

Kathedrale

Titel: Kathedrale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andy Mangels
Vom Netzwerk:
dreckig, aber er war ein Versteck. Er bot Sicherheit, wenigstens für den Moment. Mit zitternden Händen hielt sich Julian am Lüftungsgitter fest und sah auf den Korridor unter sich hinab. Niemand schien nach ihm zu suchen. Er wusste nicht, wie lange er schon in der engen Röhre hockte, und er fragte sich, wie lange er es wohl noch konnte. Ob er es überhaupt sollte.
    Vielleicht wollten mich diese Männer nur schlau machen, wie Mutter und Vater sagten. Konnte er denn erwarten, das Verlorene wiederzugewinnen, wenn er zu verängstigt war, um riskante Chancen zu nutzen? Schon in Kindertagen hatten Ärzte ihn stets verängstigt, bis er begriff, dass sie ihm nur helfen wollten. Im zarten Alter von zehn Jahren hatte er auf Invernia II den Tod eines armen kleinen Mädchens miterlebt. Sie war gestorben, weil die Mediziner aufgrund eines Ionensturms nicht zu ihr durchdringen konnten – und weil niemand wusste, dass ein in der Gegend heimisches Kraut sie von dem Fieber, das sie das Leben kostete, hätte befreien können. Jene traurige Begebenheit hatte in Julian den Wunsch geweckt, Arzt zu werden – ein Wunsch, der schon in ihm geschlummert hatte, seit er als fünfjähriger Jules Kukalakas Wunden vernähte.
    Erstaunt registrierte er, dass diese Erinnerung noch da war. Doch so sehr er sich auch anstrengte, er kam einfach nicht darauf, was ihn eigentlich jagte und seine Erinnerungen tötete. Ihm war nur, als hätten sie irgendetwas mit einer Art Kirche zu tun gehabt.
    Im Gang unter ihm erklangen nun laute Schritte. Julian erschrak so sehr, dass er sich den Kopf an der Decke des Schachtes stieß. Er ignorierte den Schmerz und sah wieder durch das Gitter. Die Schritte kamen näher, und einen Moment später marschierten die beiden Pfleger unter ihm vorbei. Sie eskortierten eine dritte, kleinere Gestalt, die ein Patient sein musste: einen schmächtigen Jungen, kaum älter als sechs Jahre. Julian hörte ihn weinen, und einer der Pfleger murmelte ihm Beruhigungsfloskeln zu.
    Als der Junge den Kopf hob und die tränenvollen, wachen Augen zur Decke richtete, setzte Julians Herz einen Schlag aus. Das Kind ähnelte dem trägen Wesen, mit dem er gerechnet hatte, kaum, und doch bestand kein Zweifel an seiner Identität.
    Dieser heulende, zutiefst verängstigte kleine Patient dort war der junge Jules Bashir. Und er war zweifellos auf dem Weg, um sich den von seinen Eltern arrangierten »Prozeduren« zu unterziehen.
    Kurze Zeit später kletterte Julian aus dem engen Schacht in einen Korridor hinab, der sich dankenswerterweise als leer herausstellte. Doch dem Geräusch nach näherten sich Schritte. Julian zwängte sich in eine Nische in der Wand. Er wusste, dass er eine wichtige Aufgabe zu erfüllen hatte, doch er entsann sich ihrer nicht länger. Es war unglaublich frustrierend, in Plänen und Zielsetzungen zu denken.
    Zum Denken blieb ohnehin keine Zeit. Die Pfleger eilten mit ihrem jungen Patienten an Julian vorbei, und er seufzte erleichtert, als sie ihn nicht bemerkten. Leise folgte er ihnen um mehrere Ecken. Zu seinem Glück blickten sie nie hinter sich, und ihre lauten Schritte überdeckten jegliches Geräusch, das er selbst verursachte.
    Um eine Ecke gebeugt, sah er, wie die Pfleger den kleinen Jules durch eine Tür hindurch in etwas bugsierten, das eine Art Labor oder Krankenstation zu sein schien. Augenblicke später kehrten die Männer zurück, diesmal ohne das Kind, und entfernten sich. Abermals nahmen sie Julians Anwesenheit gar nicht wahr.
    Dies musste der Ort sein. Julian war, als erinnerte er sich intuitiv. Hier haben die Ärzte mich verändert.
    Leise schlich er zur unverschlossenen Tür, schob sie auf und betrat den Raum.
    Der Junge saß in einem für ihn viel zu großen und nach hinten gekippten Sitz. Sein kleiner Leib verschwand fast in dem weiten Krankenhaushemd, und seine Füße in den Papierpantoffeln baumelten mehrere Zentimeter über dem sterilen Boden. Er hatte die Hände im Schoß gefaltet, als wollte er sich an sich selbst festhalten. Schutz suchen. Jules sah in Julians Richtung, und ein Trio stattlicher, vogelähnlicher Adigeoner – Ärzte, vielleicht sogar Chirurgen – stand mit Hyposprays und Trikordern vor ihm. Sie hatten Julian, dessen Anwesenheit sie eindeutig nicht wahrnahmen, die Rücken zugewandt. Obwohl der Junge Julian hatte kommen sehen, sagte er nichts und tat nichts, um die Adigeoner auf den Besucher aufmerksam zu machen.
    Kluges Kerlchen.
    Schweigend betrachtete Julian die Augen des Jungen. Die

Weitere Kostenlose Bücher