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Kathedrale

Kathedrale

Titel: Kathedrale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andy Mangels
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haben«, sagte er mit zitternder Stimme. Er klang, als schämte er sich dafür, dass er sich noch immer mit dem Text beschäftigte, wenn doch das Problem der Nyazen-Blockade nach wie vor im Raum stand. Aber niemand hatte ausdrücklich von ihm verlangt, seine Arbeit an der Entschlüsselung zu vernachlässigen. Und auch Nog war neugierig, zu erfahren, was es mit dem Text wohl auf sich hatte. Vielleicht warf er sogar neues Licht auf die Blockade. Nog gestattete sich die Hoffnung, es sei genau die glückliche Fügung, die sie brauchten.
    »Na? Schon irgendwelche Geheimnisse gelüftet?«
    Shars Blicke wanderten über den Bildschirm, und in seinem Gesicht spiegelte sich Faszination. »Das solltest du dir besser selbst ansehen.«
    Persönliches Logbuch des Leitenden Medizinischen Offiziers,
    Sternzeit 53578,6
    Das Zimmer wird nicht kleiner. Ein Teil von mir weiß das. Ich teile mir dieses winzige – gemütliche, würde sie sagen – Quartier mit Ezri und weiß, dass sich die Wände nicht bewegen können.
    Und doch würde ich es schwören. Wenn ich auf meiner Pritsche liege und die Augen schließe, ist mir manchmal, als hörte ich, wie die Decke immer näher kommt. Aber ich kann damit leben, zumindest für den Moment. Niemand ist hier, um meinen Verfall zu bezeugen. Nur hin und wieder schneit Ezri herein und sieht nach mir. Dann lächle ich und zermartere mir das Hirn auf der Suche nach cleveren, zuversichtlich klingenden Sprüchen, aber von meinem Verstand ist noch genug vorhanden, um zu merken, wie wenig zuversichtlich sie sind. Was die Cleverness angeht … keine Ahnung. Ehrlich gesagt verstehe ich nicht, wie Ezri es überhaupt schafft, mich so liebevoll wie früher anzusehen. Der Julian Bashir, den sie liebt, ist doch gar nicht mehr hier. Was soll sie noch lieben können, wenn erst der Rest dessen, was ich mein Leben lang gewesen bin, von mir abfällt?
    Während meines praktischen Jahrs behandelte ich einmal eine autistische Achtjährige. Sie mochte es nicht, berührt zu werden, und wann immer sich in ihrem Umfeld etwas zu abrupt veränderte, brach eine unbändige Wut aus ihr heraus, eine »rote Phase«. Dann schlug sie mit den Fäusten um sich, trat aus und biss sogar. Heute, zumindest in manchen Momenten, glaube ich, zu verstehen, wie die Welt für sie ausgesehen haben muss. Insbesondere, wann immer ich mich nicht länger an etwas erinnern kann. An Kinderkram wie ein mehr als dreisilbiges Wort zum Beispiel. So war es, als mir bewusst wurde, dass ich nicht länger in lateinischer Sprache denken und sprechen konnte. Oder als ich den Replikator um eine Tasse Darjeeling bat und das Gerät völlig verwirrte. Ich schaffe es nicht einmal mehr, die Schalldusche einzuschalten – nicht beim ersten Versuch.
    Wenn ich jetzt an präganglionische Fasern oder postganglionische Nerven denke, ist mir zum Heulen zumute. Oder danach, etwas kaputtzuschlagen.
    An der Wand über meiner Pritsche steht ein Satz. Ich habe ihn selbst dorthin geschrieben, heute Nachmittag mit einem der Laserskalpelle, die Ezri bei ihrem Versuch übersah, alles aus unserem Quartier zu entfernen, womit ich mich verletzen könnte. Das unbeholfene Gekritzel ist das Produkt eines meiner eigenen Wutanfälle, meiner »roten Phasen«, und offensichtlich den Resten meiner seitdem verschwundenen Lateinkenntnisse geschuldet. Ich sehe aber, dass ich klug genug war, eine englische Übersetzung darunterzulasern. Mein ganz privater Stein von Rosette. Verfasst in einer Handschrift, die zu kindlich anmutet, als dass sie meine sein könnte. In ein paar Stunden mag sie meine Grabinschrift sein.
    »Vox et praeterea nihil.«
    »Eine Stimme und weiter nichts.«
    Als ich zuletzt die Augen schloss, um mir ein Bild von den fortschreitenden Schäden innerhalb meines Geistes zu machen, brauchte ich länger als je zuvor, um meine Gedächtniskathedrale zu erreichen. Vor den Stufen befand sich ein tiefer Spalt, angefüllt mit Kies und Betonresten, wie sie etwa ein gewaltiges Abrisswerkzeug hinterlassen mag. Auf der Ostseite des Gebäudes fehlte ein Stützpfeiler – zerschmettert von einer Macht, die ich mir nicht einmal vorzustellen vermag.
    Das Innere der Kathedrale war taghell. Sonnenlicht fiel durch Risse in den Wänden, die mir von außen nicht aufgefallen waren. Es sah aus, als hätte ein gigantischer Raubvogel sie mit seinen Krallen in das Glas und Gestein geschlagen. Überall lagen Steine. Bücher und Papiere waren wahllos über die umgestürzten und zerstörten Möbel verstreut.

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