Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
1743. Ich werde es nie vergessen, denn in Venedig sollte ich etwas erleben, das ich noch heute vor mir sehe, als sei es gestern geschehen - ein Ritual, das das Wesen des Geheimnisses im Montglane-Schachspiel verkörpert.“
Rousseau schien sich seinen Erinnerungen wie einem Traum zu überlassen. Die Stickerei fiel ihm aus der Hand und auf die Erde. Ich bückte mich, hob sie auf und reichte sie ihm.
„Sie sagen, Sie haben dort etwas erlebt...“, sagte ich in der Hoffnung, ihn zum Weitersprechen zu bewegen. „Etwas, das mit dem Schachspiel Karls des Großen zu tun hat?“
Der alte Philosoph fand langsam in die Wirklichkeit zurück. „Ja... Venedig war schon damals eine sehr alte Stadt mit vielen Geheimnissen“, fuhr er nachdenklich fort. „Diese Stadt ist zwar völlig von Wasser umgeben und von Licht erfüllt, aber trotzdem liegt etwas Dunkles und Drohendes über allem. Ich spürte diese Dunkelheit, wenn ich durch das gewundene Labyrinth der Gassen lief, die alten Steinbrücken überquerte oder in lautlosen Gondeln durch versteckte Kanäle glitt, wo nur das Geräusch der klatschenden Wellen das Schweigen meiner Gedanken unterbrach...“
„Ein sehr geeigneter Ort“, sagte ich, „um an das Übernatürliche zu glauben.“
„Richtig“, erwiderte er und lachte leise. „Eines Abends ging ich allein in das San Samuele das bezauberndste Theater in Venedig, ich wollte mir ein neues Stück von Carlo Goldoni ansehen – ‚La Donna de Garbo’-. Das Theater war ein Juwel: Die Ränge mit den Logen in Eisblau und Gold reichten bis zur Decke. Jede Loge schmückte ein winziger gemalter Korb mit Früchten und Blumen. So viele glitzernde Lampen brannten, daß man die Zuschauer ebensogut sah wie die Schauspieler.
Das Theater war voll besetzt mit farbenfroh gekleideten Gondolieri, federgeschmückten Kurtisanen und reichen, mit Juwelen behängten Bürgern - ein ganz anderes Publikum als die übersättigten blasierten Zuschauer in den Pariser Theatern. Alle nahmen lautstark an dem Geschehen auf der Bühne teil. Jedes Wort der Dialoge löste Zischen, Lachen, Jubel aus, so daß man die Schauspieler kaum hören konnte.
In meiner Loge saß ein junger Mann ungefähr in André Philidors Alter, das heißt, er war etwa sechzehn; sein Gesicht war nach der damaligen Mode in Venedig weiß geschminkt und seine Lippen rubinrot, er trug eine gepuderte Perücke und einen Hut mit Federbusch. Er stellte sich als Giovanni Casanova vor.
Casanova hatte wie Sie Jura studiert, besaß aber noch viele andere Talente. Als Kind venezianischer Schauspieler, die mit ihrer Truppe von hier bis Petersburg zogen, verdiente er sich Geld, indem er an verschiedenen Theatern Geige spielte. Er freute sich, jemanden kennenzulernen, der gerade aus Paris kam, denn er sehnte sich nach der Stadt, die für ihren Reichtum und ihre Dekadenz so berühmt war - zwei Dinge, die ihn besonders anzogen. Er sagte, ihn fasziniere der Hof Ludwigs XV., denn der König sei für seine Extravaganz, seine Mätressen, seine Amoralität und die Vorliebe für das Okkulte bekannt. Casanova interessierte sich besonders für das letztere. Er erkundigte sich bei mir ausführlich nach den Logen der Freimaurer, die damals in Paris viel Aufsehen erregten. Ich wußte wenig darüber, aber er bot mir an, mir am nächsten Tag - dem Aschermittwoch - mehr darüber zu erzählen.
Wie verabredet trafen wir uns früh am Morgen. Eine große Menschenmenge hatte sich bereits vor der Porta della Carta versammelt, dem Tor, das die berühmte Kirche von San Marco vom angrenzenden Dogenpalast trennt. Die Menschen trugen nicht mehr die bunten Kostüme des carnevale der vergangenen Wochen, sondern waren alle schwarz gekleidet und warteten auf ein bevorstehendes Ereignis.
„Wir werden eines der ältesten Rituale in Venedig sehen“, erklärte mir Casanova. „An jedem Aschermittwoch zieht der Doge von Venedig bei Sonnenaufgang an der Spitze einer Prozession über die Plazzetta und zurück zu San Marco. Man nennt sie den ‚Langen Weg’. Diese Zeremonie ist so alt wie Venedig.“
„Aber Venedig ist doch bekanntermaßen älter als der Karneval und Aschermittwoch, älter als das Christentum“, erwiderte ich, während wir inmitten der erwartungsvollen Menschen hinter Absperrungen aus dicken Samtkordeln standen.
„Ich habe nicht behauptet, daß es ein christliches Ritual ist", sagte Casanova und lächelte geheimnisvoll. „Die Phönizier haben Venedig gegründet und der Stadt auch ihren Namen gegeben. Das Reich der
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