Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
tun.“
Das wußte ich. Die Sekretärin des Vorsitzenden war betont höflich, aber ich erkannte an der Art, wie sie auf meine Fragen reagierte, daß ich auf der richtigen Spur war.
„Dr. Nim?“ fragte sie mit der typischen Stimme einer älteren Dame. „Nein... nein, ich glaube, ich kenne den Namen nicht. Der Vorsitzende ist im Augenblick außer Landes. Wollen Sie vielleicht bei mir eine Nachricht hinterlassen?“
„Sehr gern“, erwiderte ich. Mehr konnte ich nicht erwarten, denn ich kannte schließlich meinen mysteriösen Mann. „Sollten Sie etwas von einem gewissen Dr. Nim hören, dann sagen Sie ihm bitte, daß Miss Velis seinen Anruf im Rockaway-Greens-Kloster erwartet. Und wenn ich bis heute abend nichts von ihm höre, sehe ich mich gezwungen, die Gelübde abzulegen.“
Ich gab der verwirrten Sekretärin meine Telefonnummer und legte auf. Geschieht Nim recht, dachte ich, wenn diese Nachricht ein paar hochkarätigen Herren an der Börse in die Hände fiel, bevor sie ihn erreichte. Sollte er sehen, wie er ihnen das einleuchtend erklärte.
Nachdem ich diese schwierige Aufgabe soweit wie möglich gelöst hatte, zog ich für meinen Tag bei Con Edison einen tomatenroten Hosenanzug an. Laut fluchend suchte ich auf dem Boden des eingebauten Schranks ein Paar Schuhe. Carioca hatte die Hälfte zerbissen und den Rest durcheinandergeworfen. Schließlich fand ich ein halbwegs passendes Paar, warf mir den Mantel über und eilte zum Frühstück im französischen Bistro um die Ecke.
Ich hatte meine erste Tasse Kaffee getrunken und ein halbes Brötchen gegessen, als ich ihn sah. Ich betrachtete durch die großen Fensterscheiben gedankenverloren die blaugrüne, geschwungene Fassade der UNO, als plötzlich etwas meinen Blick auf sich zog. Draußen vor dem Bistro ging ein Mann in einem weißen Jogginganzug mit Kapuze und einem Schal der die untere Gesichtshälfte verdeckte, vorüber. Er schob ein Fahrrad.
Ich erstarrte, das Glas mit Orangensaft in der Hand. Der Mann stieg langsam die steile Wendeltreppe neben der Mauer hinunter, die zu dem Platz gegenüber der UNO führte. Ich warf ein paar Münzen auf den Tisch, nahm Mantel und Aktenmappe und raste durch die Glastür hinaus.
Die Treppenstufen waren trotz Salzstreuung vereist und spiegelglatt. Ich schob einen Arm durch den Mantelärmel und kämpfte mit der Aktenmappe, während ich die Treppe hinunterschoß. Der Mann mit dem Fahrrad verschwand gerade um die Ecke. Als ich das gleiche Manöver mit dem anderen Arm versuchte, verfing sich die Spitze meines hohen Absatzes im Eis. Der Absatz brach ab, ich fiel über zwei Stufen und landete auf den Knien. Über mir sah ich die in die Mauer gehauenen Worte Jesajas:
„Sie sollen ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden und ihre Speere zu Sicheln. Ein Volk soll nicht das Schwert gegen ein anderes Volk heben. Auch sollen sie nicht mehr lernen, Krieg zu führen.“
Mein Gott! Ich stand mühsam auf und klopfte mir das Eis von den Knien. Jesaja mußte noch viel über die Menschen und die Völker lernen. In den vergangenen fünftausend Jahren hatte es keinen einzigen Tag gegeben, an dem auf diesem Planeten nicht Krieg geführt worden wäre. Auf dem Platz versammelten sich Atomwaffengegner. Ich mußte mich durch sie hindurchkämpfen, während sie mir ihre kleinen Tafeln mit dem Friedenszeichen entgegenstreckten.
Ich humpelte und schlitterte auf dem abgebrochenen Absatz um die Ecke. Der Mann war inzwischen eine Straße weiter. Er saß auf dem Fahrrad und fuhr langsam zur Kreuzung vor dem UNO-Platz. Dort wartete er an der Ampel auf Grün.
Ich rannte den Gehweg entlang. Meine Augen tränten in der Kälte. Ich versuchte immer noch, meinen Mantel zuzuknöpfen, während der stürmische Wind mich beutelte. Ich lief noch schneller, aber als ich die Kreuzung erreichte, sprang die Ampel auf Rot, und die Autos fuhren los. Ich ließ die Gestalt, die sich langsam entfernte, nicht aus den Augen.
Der Mann war wieder vom Fahrrad gestiegen und schob es die Treppen hinauf zum UNOPlatz. Gefangen! Der Skulpturenpark hatte keinen zweiten Ausgang. Also konnte ich mir Zeit lassen! Während ich noch an der Ampel stand und mich etwas beruhigte, wurde mir plötzlich bewußt, was ich eigentlich tat.
Gestern war ich mitten in New York beinahe Zeugin eines Mordes geworden, und dicht neben mir war eine Kugel eingeschlagen; heute verfolgte ich einen unbekannten Mann, nur weil er so aussah wie der Mann mit dem Fahrrad auf meinem Ölbild. Aber wie konnte er der Gestalt
Weitere Kostenlose Bücher