Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
Sie mir, daß Valentine nichts geschehen ist. Sagen Sie es!“
Er hatte Mireille bei den Schultern gepackt und schüttelte sie. Langsam richteten sich ihre Augen auf ihn. Was er in ihren Tiefen sah, traf ihn bis in die Wurzeln seines Wesens.
„Bitte“, flehte er, „bitte sagen Sie, daß ihr nichts geschehen ist. Sie müssen mir sagen, daß ihr nichts geschehen ist!“ Mireilles Augen blieben trocken, während Talleyrand sie wie besinnungslos schüttelte. Er schien nicht mehr zu wissen, was er tat. Courtiade legte ihm behutsam die Hand auf die Schulter.
„Sire“, sagte er leise, „Sire...“ Aber Talleyrand starrte Mireille mit aufgerissenen Augen an, als habe er den Verstand verloren.
„Es ist nicht wahr“, flüsterte er, und jedes Wort hinterließ einen bitteren Geschmack in seinem Mund. Mireille sah ihn stumm an. Langsam lockerte er den Griff. Er ließ die Hände sinken. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos. Der Schmerz hatte ihn betäubt.
Er stand auf und ging schwerfällig zum Kamin, wo er mit dem Rücken zu ihr stehenblieb. Er öffnete das Glas vor dem Zifferblatt der kostbaren vergoldeten Uhr, die auf dem Kaminsims stand, und steckte den goldenen Schlüssel in das kleine Loch. Dann begann er, langsam und sorgfältig die Uhr aufzuziehen. Mireille hörte das Ticken in der Dunkelheit.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber das erste blasse Licht drang durch die Seidenvorhänge in Talleyrands Schlafzimmer.
Er war in dieser Schreckensnacht kaum zur Ruhe gekommen. Er konnte es nicht glauben, daß Valentine tot war. Er hatte das Gefühl, man habe ihm das Herz aus dem Leib gerissen. Er besaß keine Familie, hatte in seinem ganzen Leben nie etwas für einen anderen Menschen empfunden. Vielleicht ist es besser so, dachte er bitter. Wer nicht liebt, weiß auch nicht, was Verlust ist.
Er sah Valentines silberblonde Haare im Schein des Kamins vor sich, als sie sich vorbeugte, seinen Fuß küßte und ihm mit den zarten Fingern über das Gesicht strich. Er dachte an die lustigen Dinge, die sie gesagt harte, und daran, welch große Freude es ihr bereitete, ihn zu schockieren. Wie konnte sie tot sein? Wie war das möglich?
Mireille vermochte nicht über die Umstände des Todes ihrer Cousine zu sprechen. Courtiade hatte ihr ein heißes Bad gemacht und sie überredet, einen heißen, gewürzten Cognac zu trinken, in den er Laudanum getropft hatte, damit sie schlafen würde. Talleyrand überließ ihr sein großes Bett mit dem blaßblauen Seidenbaldachin - der Farbe von Valentines Augen.
Er hatte so gut wie nicht geschlafen, sondern wach auf der hellblauen Chaiselongue neben dem Bett gelegen. Immer wieder fiel Mireille in einen schweren Schlaf, erwachte aber sofort wieder mit aufgerissenen Augen und rief verzweifelt nach Valentine. Dann tröstete und beruhigte er sie, bis sie wieder einschlief, und ging zurück zu seinem improvisierten Nachtlager mit den Decken, die Courtiade gebracht hatte.
In der Nacht hatte Mireille einmal gerufen: „Valentine, ich begleite dich! Ich werde dich niemals allein nach Cordeliers gehen lassen.“ Ein eiskalter Schauer überlief ihn bei diesen Worten. Mein Gott, war es möglich, daß Valentine im Abbaye umgekommen war? Er wagte nicht, sich mehr vorzustellen. Mireille mußte ihm die Wahrheit erzählen, sobald sie wieder bei Kräften war - trotz der Pein, die es verursachen würde.
Plötzlich hörte er leichte Schritte.
„Mireille?“ flüsterte Talleyrand, aber es kam keine Antwort. Er griff hinüber und zog den Bettvorhang beiseite. Sie war nicht mehr da.
Er zog den seidenen Morgenmantel an und ging zum Ankleidezimmer. Aber als er an der Glastür vorbeikam, entdeckte er durch die dünnen Seidenvorhänge die Konturen einer Gestalt. Er öffnete den Vorhang zur Terrasse und erstarrte.
Mireille stand mit dem Rücken zu ihm auf der Terrasse und blickte über den Garten und die Obstbäume hinter der Mauer. Sie war völlig nackt. Ihre Haut schimmerte seidig im ersten Licht des Tages. So hatte er sie an dem Vormittag gesehen, als sie beide in Davids Atelier auf dem Podest standen - Valentine und Mireille. Der Schock der Erinnerung war so heftig und schmerzlich, daß er glaubte, von einem Speer durchbohrt zu werden. Aber gleichzeitig spürte er etwas anderes. Es drang langsam durch den dumpfen, unerträglichen Schmerz in sein Bewußtsein. Und als es ihm klar wurde, war es schrecklicher als alles, was er sich vorzustellen vermochte. In diesem Augenblick empfand er Lust. Leidenschaft. Er wollte
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