Katrin Sandmann 01 - Schattenriss
Sie war irgendwie in Eile, wollte später wieder anrufen. Hat sie aber nicht getan. Ich hab unzählige Anrufe nach diesem Artikel gekriegt. Können Sie sich sicher vorstellen. Plötzlich verdächtigt jeder seinen Nachbarn. Und außerdem gibt es jede Menge Leute, die Tipps und Ratschläge von dir wollen. Na ja, auf jeden Fall hab ich Tamara in dem Durcheinander einfach vergessen.“
„Sie kannten Tamara?“, fragte Katrin fassungslos. „Warum erzählen Sie mir das erst jetzt?“
„Ich sag’s doch. Ich hab nur einmal mit ihr telefoniert. Außerdem hab ich ja wohl keine Verpflichtung, Ihnen alles zu sagen, was ich weiß.“
„Stimmt. Und das beruht wohl auf Gegenseitigkeit.“
Katrin knallte den Hörer auf die Gabel. Sie war viel zu empört über Kabritzkys Verhalten, um die Bedeutung dessen, was er ihr erzählt hatte zu begreifen. Sie starrte eine Weile ungläubig auf das Telefon. Wie konnte ein Mensch sie nur immer wieder so aus der Fassung bringen? Jedes Mal, wenn sie dachte, dass dieser Kabritzky eigentlich doch ein ganz netter Typ sei, dann sagte oder tat er etwas, das sie sofort erneut in Rage brachte.
Außerdem war er nicht aufrichtig gewesen. Er hatte natürlich nicht die geringste Verpflichtung, alle Informationen, die er besaß, an sie weiterzuleiten. Aber er hatte sie bewusst in die Irre geführt. Er hatte ihr bei seinem Besuch in ihrer Wohnung und später bei ihrem zufälligen Treffen auf dem Friedhof vorgegaukelt, dass sie auf dem gleichen Wissensstand seien und offen miteinander redeten. In Wirklichkeit kannte er die ganze Zeit Einzelheiten, die er ihr verheimlichte. Wer weiß, was er ihr noch alles verschwieg.
Wieso hatte er ihr das mit Tamaras Anruf jetzt plötzlich erzählt? Warum hatte er sie überhaupt angerufen? War diese Frage zu Dieter Arnold nicht nur ein Vorwand gewesen? Was wollte er von ihr? Sie aushorchen? Oder vielleicht auf eine falsche Fährte locken?
Sie hatte mit einem Mal das sichere Gefühl, dass er ihr noch mehr Details vorenthielt, dass sie vorsichtig sein und diesen undurchsichtigen Journalisten besser im Auge behalten sollte.
6
Katrin fuhr über die Fleher Brücke und nahm die Ausfahrt Uedesheim . Sie hatte sich den Weg zu Hause auf dem Stadtplan herausgesucht. Trotzdem musste sie zwei Mal am Straßenrand anhalten und nachsehen. Rheinfährstraße, Macherscheider Straße und dann rechts ab. Sie suchte nach der Hausnummer. Horst Breuer wohnte in einem schlichten, grauen Häuschen mit säuberlich gepflegtem Vorgarten. Katrin parkte direkt vor der Tür. An einer Bewegung der Gardine erkannte sie, dass ihr alter Mathematiklehrer am Fenster gewartet hatte. Sie griff die Blumen vom Beifahrersitz, einen dicken Strauß roter Tulpen, und stieg aus. Horst Breuer empfing sie an der Tür.
„Wie schön, dass Sie sich die Zeit genommen haben, Katrin.“ Er ging voran in ein kleines Wohnzimmer, dessen Fenster den Blick in einen Garten freigaben. Die Beete und Blumenrabatten wirkten liebevoll angelegt aber recht verwildert. In der hinteren Ecke blühte ein Flieder in tiefdunklem Violett. Er überragte einen baufälligen Geräteschuppen, dessen hellgrüne Farbe sich in großen Lappen vom Holz schälte.
„Früher war das mal der schönste Garten in Neuss. Aber Horst wird nicht Herr darüber. Er hat ja auch soviel mit der Schule am Hals. Und ich sage immer, solange der Vorgarten ordentlich gepflegt ist, ist alles in Ordnung. Wie es hinter dem Haus aussieht, geht keinen was an.“
Die Stimme kam aus der hinteren Ecke des Zimmers. Katrin drehte sich um und erblickte eine Frau im Rollstuhl. Horst Breuer lächelte sie an. „Meine Frau Christa.“
Sie wirkte recht klein und zierlich und schien einige Jahre jünger als ihr Mann zu sein, vielleicht Mitte vierzig.
Sie setzten sich an den Wohnzimmertisch, der einladend gedeckt war. Der Lehrer hatte Erdbeerkuchen besorgt und war eifrig bemüht, seine ehemalige Schülerin gut zu unterhalten. Er erzählte einige Anekdoten aus dem Schulalltag. Katrin hörte amüsiert zu. Gelegentlich fragte sie nach anderen Lehrern und stellte zu ihrem Erstaunen fest, dass die meisten Kollegen noch am Schiller-Gymnasium arbeiteten. Da ihr eigenes Leben sich so sehr verändert hatte, war sie davon ausgegangen, dass die Welt um sie herum sich ebenfalls weiterentwickelt hatte. Aber an ihrer alten Schule schien die Zeit stehen geblieben zu sein.
„Ich soll Sie ganz herzlich von Roberta grüßen. Erinnern Sie sich an meine Freundin Roberta?“
Horst Breuer
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