Katrin Sandmann 02 - Kinderspiel
kürzlich verstorben sind? Geht das nicht ein bisschen zu weit ?« Roberta fixierte Katrin ungläubig. »Ich finde, jetzt geht doch die Phantasie mit dir durch .«
Katrin antwortete nicht. Sie stand auf und verschwand im Wohnzimmer. Eine Minute später kehrte sie mit einem gerahmten Bild zurück. Mit wenigen Handgriffen holte sie das Foto aus dem Rahmen und legte es auf den Tisch.
»Na, fällt dir was auf ?« , fragte sie, und ein siegessicheres Lächeln lag auf ihrem Gesicht.
Roberta studierte die Fotos. Dann tippte sie auf das Bild aus dem Rahmen und auf eines der anderen Porträts. »Das könnte der gleiche Junge sein«, meinte sie schließlich zögernd.
Katrin nickte triumphierend. »Genau das denke ich auch .«
»Und? Mach’s nicht so spannend. Wo ist das Bild her ?«
Robertas Stimme klang aufgeregt. Ihre Skepsis schien verflogen. Katrin lehnte sich genussvoll zurück und verschränkte die Arme.
»Aus der Wohnung von Erik Stein.«
Erna Fassbender beobachtete, wie die junge Frau aus dem Wagen stieg. Ihre braunen Haare waren vom Wind zerzaust. Das Auto war eins von diesen ohne Dach, was bei der Hitze sicher recht angenehm war. Allerdings holte man sich bei dem fürchterlichen Fahrtwind bestimmt eine Erkältung. Sie würde auf jeden Fall lieber nicht mit so einem Ding herumfahren. Sie zog entschlossen die Gardine zu. Dann fiel ihr ein, dass sie seit Jahren nicht mehr in einem Auto gefahren war.
Zwei Minuten später klingelte es an der Tür. Die junge Frau lächelte freundlich.
»Katrin Sandmann, Sie erinnern sich doch an mich ?«
Erna bat sie herein. Ja, natürlich erinnerte sie sich. Sie erinnerte sich an vieles, und es war einiges darunter, das sie viel lieber vergessen hätte, einiges, dem sie nicht gestattete, sie heimzusuchen. Doch manchmal konnte sie es nicht verhindern. Dann stand sie am Küchenfenster. Sie war siebzehn. Es war ein lauer Frühlingstag. Die Kirschbäume blühten und hatten einen weißen Teppich auf den Gartenweg gestreut. Ihre Mutter stand neben ihr. Sie sahen die Soldaten die Straße heraufkommen. Die Männer grölten lauthals und ihr Gang war schwankend. Ihre Mutter versteckte sie in der alten Truhe, die im Schlafzimmer stand. Zusammengekauert lag sie zwischen der Wäsche. Es stank nach Mottenkugeln. Sie hörte, wie die Soldaten die Tür eintraten, ihre lauten, lallenden Stimmen und das Poltern umfallender Stühle. Sie hörte die Schreie ihrer Mutter und presste die Hände auf die Ohren. Sie dachte an das Ferkel, das sie geschlachtet hatten, im letzten Sommer vor dem Krieg. Es hatte genauso geschrien .
Erna schloss mit einer abrupten Bewegung die Tür hinter der jungen Frau. Es machte keinen Sinn, in der Vergangenheit herumzustochern und alte Wunden aufzureißen. Es schmerzte nur, und die Toten würden davon auch nicht wieder lebendig.
Katrin spürte Erna Fassbenders abweisende Haltung. Sie war genauso freundlich wie bei ihrem ersten Besuch, aber es fehlte die Herzlichkeit, die unvoreingenommene Wärme, die die alte Frau am Tag zuvor ausgestrahlt hatte. Eine Mischung aus Betretenheit und Beklemmung machte sich in ihr breit. Es war ihr unangenehm, in das Privatleben eines fremden Menschen einzudringen. Sie war froh, dass sie nicht hauptberuflich Polizistin oder Detektivin war, dass sie nicht ständig verletzten Menschen gegenübertreten und ihnen zusätzliche Qualen bereiten und schmerzhafte Erinnerungen entlocken musste. Dann wurde ihr plötzlich bewusst, dass sie vollkommen freiwillig hier war, und dass sie die Konfrontation mit der Wahrheit und dem Schmerz ganz bewusst suchte.
Sie gingen wieder in die Küche. Katrin öffnete den Umschlag, den sie mitgebracht hatte, und legte die Fotos einzeln auf den Tisch. Zuerst schob sie der alten Frau Claudias Foto hin. Erna setzte ihre Brille auf.
»Ja, ja, das ist die Claudia«, murmelte sie, »das hab ich doch schon gesagt .«
Katrin reichte ihr ein weiteres Bild.
Die Frau nickte. »Der Nachbarsjunge, wie ich schon sagte, mir ist jetzt auch der Name eingefallen. Er hieß Andreas. Weiter weiß ich nicht .«
Katrin stockte der Atem. Also doch.
»Andreas Schäfer vielleicht?«
Erna Fassbender legte das Foto zurück auf den Tisch. »Ja genau. Schäfer, so hießen die, glaub ich. Ist ja schon so lange her, dass die weggezogen sind .«
»Und das, wer ist das?«
Diesmal zögerte die Frau nicht. »Das ist doch der Erik. Erik Stein.« Katrin hielt ein zweites Foto daneben. »Das ist er doch auch, stimmt’s ?«
Erna Fassbender
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