Katrin Sandmann 03 - Wintermärchen
konnte. Auf eine unerklärliche Art hatte der Kommissar den Mann regelrecht gemocht. Dass er jetzt da draußen herumlief, orientierungslos, und gejagt wurde wie gehetztes Wild, irritierte ihn maßlos.
Damals war auch eine Bürgerinitiative in Erscheinung getreten, die sich ›Bürger für den Bürgerschutz‹ nannte und es sich zum Ziel gesetzt hatte, dafür zu sorgen, dass Männer wie Mario Brindi für immer hinter Schloss und Riegel verschwanden. Sie glaubten nicht an die Erfolgs-chancen von Therapien und hielten nichts von dem Versuch, Straftäter wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Mit Mahnwachen und Protestkundgebungen hatten sie für ihre Interessen geworben. Halverstett konnte ihre Ängste gut verstehen. Der Wortführer dieser Gruppe allerdings, ein gewisser Detlev Kraus, war ihm äußerst unsympathisch gewesen. Seine polemischen Hetztiraden gegen Polizei und Justiz hatten nicht nur die betroffenen Kollegen verärgert, sondern auch viele Menschen aufgebracht, die eigentlich mit der Initiative sympathisierten. Zudem hatte sich sein Protest vor allem in Mahnwachen vor dem Präsidium geäußert, was eigentlich unsinnig war, denn die Polizei hatte keinen Einfluss darauf, was mit den Tätern passierte, die sie überführte. Es schien fast, als sei er mehr daran interessiert gewesen, möglichst oft in die Schlagzeilen zu geraten, als tatsächlich etwas zu bewirken.
Und es gab natürlich noch einen anderen Grund dafür, dass Kraus’ Protest sich ausgerechnet gegen die Polizei richtete. Er führte eine Art persönlichen Rachefeldzug: Einige Jahre zuvor war er nämlich aus dem Polizeidienst entlassen worden. Die Geschichte hatte damals für viel Wirbel gesorgt. An jenem Abend war in der Leitstelle ein anonymer Notruf eingegangen. Kraus und eine junge Kollegin waren zuerst vor Ort gewesen. Eine Wohnung am Stadtrand von Düsseldorf. Schäbige Mietskasernen. Graffiti und leere Bierdosen im Treppenhaus. Der Aufzug funktionierte nicht.
Zuerst fanden sie die Mutter an einen Stuhl gefesselt in der Küche. In der Tür zum Wohnzimmer stolperten sie fast über die Leiche des kleinen Sohnes. Der Vater war so damit beschäftigt, die siebenjährige Tochter mit einer Rohrzange zu verprügeln, dass er gar nicht bemerkte, wie sich die Polizeibeamten näherten. Die junge Kollegin forderte Verstärkung an und kümmerte sich um das schwer verletzte Mädchen. Kraus kümmerte sich um den Vater. Mit der Rohrzange. Der Mann überlebte.
Vermutlich hätte die Sache für Kraus nicht so gravierende Konsequenzen gehabt, wenn er sich darauf berufen hätte, im Affekt gehandelt zu haben. Aber der Polizist verkündete immer wieder, dass es ihm keineswegs leid täte und dass er jederzeit wieder so handeln würde. Das machte ihn natürlich für den Polizeidienst untragbar. Ein Beamter, der sich nicht in der Gewalt hatte, der glaubte, im Zweifelsfall das Recht selbst in die Hand nehmen zu dürfen, überschritt nicht nur seine Kompetenzen, er machte auch die Bemühungen seiner Kollegen zunichte, die Grenze nicht völlig zu verwischen, die ihr eigenes Handeln oft nur dürftig von dem der Kriminellen, die sie jagten, unterschied. Kraus erhielt eine Bewährungsstrafe und gründete eine Firma für Personen- und Objektschutz, die offensichtlich gut lief. Außerdem engagierte er sich in dieser Bürgerinitiative.
Halverstett hatte schon länger nichts mehr von Kraus und seinen Leuten gehört, aber ihn beschlich das ungute Gefühl, dass der Mann sich eine so gute Gelegenheit, für Aufsehen zu sorgen, nicht entgehen lassen würde. Brindis Flucht schrie förmlich danach, dazu genutzt zu werden, gegen das bestehende Rechtssystem zu protestieren.
Halverstett bemerkte, dass es inzwischen tatsächlich angefangen hatte zu schneien. Dicke, formlose Flocken segelten vom Himmel, suchten sich ein Plätzchen auf Wagendächern, Papierkörben und Mützen. Es war bereits wieder dämmrig. Er war froh, im Warmen und Hellen zu sein, und schauderte bei dem Gedanken, irgendwann später noch durch die Kälte zu seinem ebenfalls eisigen Auto hasten zu müssen, um nach Hause zu fahren. Bei diesem Wetter blieb man am besten, wo man gerade war.
Plötzlich fiel ihm Katrin Sandmann ein. Bis zu diesem Augenblick war er so mit Brindi und Kraus beschäftigt gewesen, dass er die Begegnung vor dem Präsidium fast vergessen hatte. Er kannte Katrin von früheren Fällen. Obwohl sie dazu neigte, ihm bei seinen Ermittlungen in die Quere zu kommen, mochte er sie sehr. Sie war zwar
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