Katrin Sandmann 03 - Wintermärchen
möglich, dass er versuchte, bei ihr unterzuschlüpfen. Es war sogar denkbar, dass sie etwas mit seiner Flucht zu tun hatte. In den letzten Monaten hatte sie ihn auffallend oft besucht. Ihre Wohnung wurde seit gestern observiert. Man hatte auch die Nachbarn diskret befragt. Allerdings hatte bisher niemand etwas Auffälliges bemerkt.
Halverstett war im Foyer angekommen. Er sah aus dem Fenster in den Himmel. Es würde bald dämmern. Aber es hatte aufgehört zu schneien. Dann fiel sein Blick auf eine Gruppe Menschen, die vor dem Präsidium stand. Ein Mann hielt eine Art Schild hoch, aber der Kommissar konnte nicht erkennen, was darauf stand. Ein weiterer Mann diskutierte heftig mit zwei uniformierten Beamten, die offensichtlich versuchten, seine Personalien aufzunehmen. Ein Kollege, der auf der Kriminalwache Bereitschaftsdienst hatte, war neben Halverstett ans Fenster getreten.
»Was ist denn da los?«, wollte er von dem älteren Beamten wissen.
»Ich bin mir nicht sicher«, antwortete Halverstett, »aber ich habe da so eine Ahnung.«
Jetzt begriff der Mann. Auch er erinnerte sich an den großen Aufruhr vor drei Jahren. »Detlev Kraus?«, fragte er.
Halverstett nickte. »Ich fürchte ja.« Dann knöpfte er sich den Mantel zu. »Ich werde mal mit ihm reden.« Er sah den Kollegen kurz an, der neugierig durch die Scheibe starrte, und machte sich dann auf den Weg nach draußen.
Er hatte so etwas in der Art befürchtet. Die Initiative ›Bürger für den Bürgerschutz‹ hatte sie damals vor drei Jahren ganz schön auf Trab gehalten. Und den Vater des letzten Opfers, Helmut Maiwald, hatten sie als Zugpferd vor ihren Karren gespannt. Der arme Mann hatte gar nicht gewusst, wie ihm geschah. Wahrscheinlich hatte er sich in diese sinnlose Auseinandersetzung mit der Polizei gestürzt, weil er es nicht ertragen hatte, zu Hause zu sitzen; weil er das Bedürfnis gehabt hatte, etwas für seine Tochter zu tun. Er konnte sie nicht wieder zum Leben erwecken, aber er konnte wenigstens dafür sorgen, dass der Mann, der sie in den Selbstmord getrieben hatte, gefasst und bestraft wurde. So zumindest hatte Halverstett es verstanden.
Was dem Kommissar Sorge bereitet hatte, war die Tatsache, dass dieser fanatische Kraus ihn benutzt hatte, und dass es ihm zudem gelungen war, so viele Menschen zu finden, die sich ihm anschlossen und die laut nach drakonischen Strafen für Gewaltverbrecher riefen. Er musste, wenn es irgendwie ging, dafür sorgen, dass die Emotionen nicht wieder so hochkochten.
Carolin Maiwald hatte sich damals in der Badewanne die Pulsadern aufgeschnitten. Sie hatte es falsch gemacht und die Handgelenke quer aufgeritzt. Als nichts passierte, hatte sie dann zusätzlich noch Schlaftabletten genommen. Schließlich war sie eingeschlafen und in der Badewanne ertrunken. Halverstett hatte sie dort liegen sehen. Er hatte ihre Arme gesehen, die zaghaften, vorsichtigen Probeschnitte auf dem Handballen und am Unterarm. Aber er hatte auch die anderen Wunden gesehen, die kaum verheilten blutunterlaufenen Striemen, die Brandwunden und Schnittverletzungen, die Brindi ihr beigebracht hatte und mit denen ihr magerer Körper übersät war.
In dem Moment, als er sie da so liegen sah, hatte er genauso empfunden wie Detlev Kraus. Da hatte er sekundenlang die gleiche besinnungslose Wut gespürt. Aber der erfahrene Polizist in ihm wusste auch, dass man in dieser Stimmung nicht handeln sollte, dass man so keine Lösungen schaffte, sondern nur neue Probleme.
Statt auf Kraus traf er zuerst auf Maiwald. Der erkannte ihn sofort.
»Na, Herr Kommissar, wie fühlen Sie sich jetzt?« Seine Stimme klang bitter und zugleich arrogant.
Der Polizist hatte ihn ebenfalls sofort wiedererkannt. Doch er sah auch, dass der Mann dünner geworden war. Und seine Gesichtszüge waren noch eine Spur härter und verbitterter, als Halverstett sie in Erinnerung hatte.
»Was geht Ihnen so durch den Kopf, wenn Sie mit Ihrem eigenen Versagen konfrontiert werden?« Maiwald fixierte den Kommissar herausfordernd.
»Wir sind weder für das Strafmaß noch für die Unterbringung der Straftäter zuständig«, erklärte Halverstett und bemühte sich dabei, so ruhig und sachlich wie möglich zu bleiben. »Wir versuchen lediglich, sie zu fassen und zu überführen. Alles andere ist Sache der Justiz.«
»Und was tun Sie bitte gerade im Augenblick, um den Kerl zu schnappen?! Hier rumsitzen und Kaffee trinken? Warum sind Sie nicht draußen auf der Straße und machen Ihre Arbeit?
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