Katrin Sandmann 03 - Wintermärchen
den Schneelasten beinahe erstickte, war der Osten Deutschlands lediglich in eine zarte Reifdecke eingehüllt. Jeanette hatte von dem Wintereinbruch in Nordrhein-Westfalen in der Zeitung gelesen, und sie war froh gewesen, dass sie in Berlin davon verschont geblieben waren. Solche extremen Wetterbedingungen brachten immer den Alltag durcheinander, und sie hasste es, wenn nicht alles so lief, wie sie es geplant hatte. Jetzt hatte allerdings ihre Schwester dafür gesorgt, dass sie Termine hatte absagen müssen, um überstürzt nach Düsseldorf zu fliegen.
Es war nicht das erste Mal, dass Dagmar sie um Hilfe bat. Obwohl Jeanette jünger war, hatte sie ihr Leben besser im Griff, musste sogar ihrer großen Schwester hin und wieder beistehen, weil diese sich gelegentlich in Sackgassen hineinmanövrierte, aus denen sie allein nicht wieder herauskam. Meistens ging es dabei um Geld. Jeanette half gern. Sie hatte sich immer gut mit Dagmar verstanden. Früher hatte sie sogar zu ihr aufgesehen. Damals hatte Jeanette das Gefühl gehabt, dass ihre Schwester alles wusste und alles konnte. Und Dagmar hatte sie, so gut es ging, an ihrem Leben teilhaben lassen, hatte sie mit ins Kino genommen, auf Feten, später sogar auf irgendwelche Demos gegen Atomtransporte. Gemeinsam hatten sie auf den Schienen ausgeharrt. Jeanette hatte gefroren und war müde gewesen, dennoch stolz und glücklich, bei den Großen mitmachen zu dürfen.
Allerdings hatte sie schnell gemerkt, dass das nicht ihre Welt war. Politik interessierte sie nicht. Sie fing an, sich von Dagmar zu lösen und ihre eigenen Wege zu gehen. Irgendwann, beinahe unmerklich, hatte sich das Verhältnis dann umgekehrt, und heute war es Jeanette, die ihrer Schwester manchmal unter die Arme griff, sie zu Veranstaltungen mitnahm, auf denen sie Kontakte knüpfen konnte, ihr zu Interviews verhalf oder Geld zukommen ließ, mal mehr, mal weniger.
Diesmal hatten Dagmars Probleme allerdings eine andere Dimension. Samstag am Telefon hatte Jeanette zunächst nicht geahnt, wie schlimm die Lage war, und versucht sie auf Weihnachten zu vertrösten.
»Wir sehen uns doch in einer Woche sowieso. Kann es nicht bis dahin warten?«
»Nein, auf keinen Fall.« Dagmar hatte fast ins Telefon geschrien. »Glaubst du, ich würde dich anrufen, wenn es nicht wirklich dringend wäre? Es geht um Leben und Tod.«
Irgendetwas an Dagmars Stimme hatte Jeanette gesagt, dass der letzte Satz diesmal keine leere Floskel war. Sie war im Kopf die Termine durchgegangen, die sie eigentlich in der nächsten Woche hatte, dachte kurz an das Telefonat mit Richie, das sie jetzt würde führen müssen, und seufzte. Dann versprach sie zu kommen. Dagmar schluchzte vor Erleichterung auf, und das merkwürdige Ziehen in Jeanettes Magengrube verschlimmerte sich. Am Sonntagmorgen teilte sie Dagmar mit, wann ihr Flugzeug am nächsten Vormittag in Düsseldorf landen würde. Diesmal erzählte Dagmar ihr, was los war. Zumindest einen Teil der Geschichte. Jeanette hatte nicht alle Zusammenhänge genau begriffen. Die Fakten waren viel zu ungeordnet aus ihrer Schwester herausgesprudelt, doch ihr war bewusst geworden, was auf dem Spiel stand.
Jeanette hatte grübelnd aus dem Fenster gestarrt, während das Taxi durch den frühmorgendlichen Verkehr zum Flughafen fuhr. Es war noch dunkel und nicht sehr viel los, doch es war zu spüren, wie die Stadt langsam aufwachte. Eigentlich liebte sie diese frühe Stunde. Oft stand sie morgens auf der Terrasse ihres Apartments im sechsten Stock, rauchte eine Zigarette, sah hinunter und beobachtete, wie mit der aufkommenden Helligkeit des neuen Tages die künstlichen Lichter nach und nach verloschen.
Heute Morgen war jedoch alles anders gewesen, hektisch und überstürzt. Wenn die Sonne aufging, würde sie zudem längst im Flieger sitzen. Jetzt hatten sie den Flughafen erreicht. Jeanette bezahlte den Fahrer und stieg aus. Drei junge Mädchen, kaum älter als zwanzig, kamen vorbei, als sie gerade nach ihrer Tasche griff. Sie rissen erstaunt die Augen auf und starrten sie ungeniert an. Jeanette wandte sich ab, als hätte sie nichts bemerkt. Aber sie versuchte dennoch, Eleganz und Überlegenheit auszustrahlen, als sie auf die Glastür zuschritt. Sie hörte die drei aufgekratzt kichern, als sie das Gebäude betrat und auf die Schalter zuging, um einzuchecken.
***
Halverstett brauchte beinahe eine halbe Stunde, bis er auf den Parkplatz bei der Rennbahn einbog. Unterwegs war es mehrfach zu Verzögerungen
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