Katrin Sandmann 03 - Wintermärchen
Stundenlang saß sie in ihrem Zimmer auf dem Bett und starrte vor sich hin. Die Therapeutin, die sich damals um Carolin kümmerte, sagte ihnen, es würde lange dauern, viel Zeit und Kraft kosten. Ihre Tochter würde nie wieder dieselbe sein, wie vor ihrer Entführung. Aber sie würde lernen, mit dem zu leben, was geschehen war.
Daran hatte Ruth sich geklammert. Und dann fand sie Carolin in der Badewanne. Sie hatte sie an dem Abend eigentlich nicht allein lassen wollen, aber dann hatte sie sich überreden lassen und war doch mit ihrem Mann ausgegangen. Sie würde es ihr Leben lang bereuen. Sie war sicher, dass sie etwas gemerkt hätte, wenn sie im Haus geblieben wäre. So war ihre Tochter am Ende doch allein gestorben, frei und dennoch gefangen in den Erinnerungen an das, was man ihr angetan hatte, an das, was sie nicht losließ, sie heimsuchte und schließlich in den Tod trieb.
Nach Carolins Tod hatte Helmut sich verändert. Er arbeitete nicht mehr. Er verbrachte seine Tage erst bei der Polizei und dann vor Gericht. Er schloss sich dieser merkwürdigen Bürgerinitiative an, trat als Nebenkläger in dem Prozess auf, kämpfte verzweifelt um das, was er für Gerechtigkeit hielt, und als Brindi in den Maßregelvollzug kam, brach er zusammen. Seine Rettung hätte darin bestanden, den Mann, der seiner Tochter die Freude am Leben geraubt hatte, für den Rest seiner Tage hinter Gittern zu sehen, ohne Aussicht darauf, je wieder herauszukommen.
Mit der kleinen Malerfirma war es daraufhin bergab gegangen. Die drei Angestellten versuchten, den Betrieb so gut es ging allein am Laufen zu halten, aber sie waren Malergesellen, keine Geschäftsleute. Helmut musste erst einen entlassen, dann einen zweiten. Nur der letzte nahm weiterhin in seinem Namen Aufträge an und sorgte dafür, dass sie wenigstens in dem kleinen Haus wohnen bleiben konnten. Vielleicht wäre es jedoch besser gewesen, wenn sie fortgezogen wären. Hier erinnerte sie alles an Carolin. Jeder Raum, den sie betreten, jeder Gegenstand, den sie berührt hatte.
Als Carolin sich umbrachte, hatte Helmut gerade damit begonnen, im Wohnzimmer einen Kamin zu bauen. Er stellte ihn nie fertig. Noch heute saß er manchmal im Sessel und starrte das halbfertige Mauerwerk an, einfach so, stundenlang, wie ein Mahnmal, und Ruth wusste genau, woran er dachte.
***
Roberta öffnete verschlafen die Haustür. Er sah grauenvoll aus.
»Manfred!«
Er folgte ihr wortlos in die Küche, wo sie die Kaffeemaschine anstellte, während er sich auf einen Stuhl setzte und ihr geistesabwesend zusah. Sie fragte nicht und er erzählte nichts, bis Roberta jedem einen Becher schwarzen Kaffee hingestellt hatte. Dann blickte sie ihn fragend an.
»Was ist passiert?«
Es sprudelte aus ihm heraus, alles auf einmal, und er war nicht in der Lage, das Geschehene in eine verständliche Reihenfolge zu bringen.
»Sie haben eine Leiche im Grafenberger Wald gefunden. Ich bin sofort hingefahren. Ein Kollege hatte mich angerufen. Ich dachte, es sei Katrin. Ich wollte gar nicht hinsehen. Aber ich musste. Es war wie ein Zwang. Ich habe immer nur hingestarrt. Ich konnte ja das Gesicht nicht erkennen, weil es so dunkel war. Es war so furchtbar, sie da liegen zu sehen. So kalt und starr. Ich hab schon soviel Scheiß in meinem Leben gesehen, in meinem Beruf sieht man ’ne Menge Scheiß, das kannst du mir glauben, aber das war das Schlimmste. Das Allerschlimmste, was ich je gesehen habe. Sie sah so klein und verloren aus im Schnee. Wie ein toter Vogel. Wie eine Puppe. Was soll ich jetzt tun? Es ist bestimmt nur eine Frage der Zeit, bis sie es rauskriegen. Ich war doch abends noch mal da. Sie werden bestimmt denken – passt ja alles so schön zusammen. Was mache ich denn, wenn die mich verhaften? Wir müssen etwas unternehmen, bevor es zu spät ist! Ich kann nicht mehr.«
Er brach ab, schlug die Hände vor das Gesicht, und sekundenlang sah Roberta entsetzt und hilflos zu, wie seine Schultern zuckten. Sie war unfähig, etwas zu tun. Sie versuchte zu begreifen, was er gesagt hatte, aber der Ansturm seiner Worte war zu verwirrend gewesen. Sie hatte nur verstanden, dass man eine Leiche imGrafenberger Wald gefunden hatte, und dass es womöglich Katrin war.
Roberta stand auf, und ihre Hände zitterten ein wenig, als sie sie auf Manfreds Schultern legte. Er griff nach ihren Armen, hob den Kopf und sah sie an. Sein Gesicht war nass. »Ich war so froh, dass es nicht Katrin war.«
Roberta sank vor Erleichterung auf den
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