Katrin Sandmann 04 - Blutsonne
seine Arbeit überschattet. Wenn er im Dienst gewesen war, dann immer hundertprozentig. Dann war er einfach nur Polizist gewesen, und zwar ein verdammt guter. Genauso hatte er immer versucht, die Arbeit hinter sich zu lassen, wenn er sein Haus in Gruiten betrat. Und meistens war es ihm gelungen. Doch diesmal war alles anders. Und das lag nicht nur daran, dass Maren Lahnstein zugleich mit seiner Arbeit zu tun hatte und sein Privatleben durcheinanderwirbelte . Zum ersten Mal seit dreißig Jahren war er nicht mehr sicher, wie der Rest seines Lebens verlaufen würde. Plötzlich gab es Leerstellen. Neue Möglichkeiten. Und er hatte noch nicht entschieden, ob diese Ungewissheit eine riesige Chance oder die größte Katastrophe seines Lebens war.
Der Mann, der ihm jetzt auf dem Stuhl gegenübersaß, war vermutlich einer der unendlich vielen vermeintlichen Zeugen, die glaubten, etwas Wichtiges zu wissen, was sich aber dann als völlig bedeutungslos für den Fall herausstellte. Trotzdem musste er angehört werden. Wie die zweihundertsechsundachtzig anderen, die sie bisher befragt hatten. Zu den Zeugen gesellten sich die übrigen Spuren. Inzwischen gab es knapp tausend. Eine Heidenarbeit, die alle auszuwerten.
Thomas Willman begann zögernd zu erzählen. Immer wieder stockte er zwischendurch, suchte nach den richtigen Worten. »Also, ich bin Arzt. Notarzt. Vor etwa zwei Wochen, genauer gesagt, Donnerstag vor zwei Wochen hatte ich einen Einsatz in Kaiserswerth . Abends. Kurz nach dreiundzwanzig Uhr. Ein alter Mann sei auf der Straße aufgefunden worden. Offenbar bewusstlos. Als wir mit dem Notarztwagen eintrafen, war schon ein Rettungswagen da. Der Sanitäter hatte den Mann bereits untersucht. Er war tot. Ich sah ihn mir gleich an und entdeckte, dass er schon länger tot sein musste. Er hatte Leichenflecke am Rücken, und die Totenstarre hatte bereits eingesetzt. Er lag an einer Straßenkreuzung auf dem Bürgersteig. Ich untersuchte ihn, so gut es ging bei dem schlechten Licht und dem Nebel –«
»Es war neblig?«, unterbrach Halverstett .
»Ja, ziemlich. Man konnte keine zwanzig Meter weit sehen.«
»Gut. Erzählen Sie weiter.«
»Also, ich untersuchte den Mann, fand aber nichts außer zwei Kopfverletzungen, eine am Hinterkopf – etwa hier –« Er deutete mit dem Zeigefinger auf die Stelle, wo das Gummiband seine Haare zusammenhielt, »– und eine an der Stirn, links, knapp über der Augenbraue. Inzwischen war auch die Polizei eingetroffen. Ich füllte den Totenschein aus und kreuzte bei der Todesursache ›ungeklärt‹ an.« Willman fuhr mit den Fingern über die Knopfleiste seines Hemdes. »Und dann fing der Ärger an.«
»Ärger?«
»Ja. Also ich gebe dem einen Beamten den Totenschein, und der guckt auf das Kreuz und sagt: ›Das meinen Sie doch wohl nicht ernst?‹ Ich sage: ›Natürlich meine ich das ernst.‹ Und da ist der völlig ausgetickt. Ich solle mich nicht so wichtig tun. Es sei doch wohl sonnenklar, was hier passiert sei. Alter Mann, Herzversagen, Tod. Die Verletzung am Kopf komme eindeutig von dem Sturz. Ob ich wüsste, wie viel Arbeit ich ihm damit aufhalse.«
Halverstett hatte sich vorgebeugt. Die Empörung hatte ihm vorübergehend die Sprache verschlagen. Er wusste, dass es unter den Kollegen schwarze Schafe gab, die sich gern um die Arbeit drückten. Die es für überflüssig hielten, bei einem alten Mann, der auf der Straße gestürzt war, mit viel Aufwand die Todesermittlungsmaschinerie anlaufen zu lassen. Aber persönlich war ihm noch nie ein solcher Fall untergekommen. Das lag ja auch nahe, denn er wurde nur benachrichtigt, wenn die Polizisten vor Ort korrekt vorgingen. »Wie hieß der Beamte?«, fragte er scharf.
»Weiß ich nicht mehr.« Willman fuhr wieder über die Knopfleiste. »Jedenfalls hat er mir keine Ruhe gelassen. Ich habe mir den Mann dann noch mal angesehen. Keine Spuren von Gewalteinwirkung. Bis auf die zwei Kopfverletzungen. Die waren auch nicht sehr tief. Als Todesursache kamen die nicht in Frage. Da hatte der Polizist recht. Es kam mir zwar etwas komisch vor, dass die eine am Hinterkopf und die andere auf der Stirn war, aber ich habe dann nachgegeben. Ich bin noch nicht so lange dabei, wissen Sie. Ich wollte mir keinen Ärger aufhalsen. Ich dachte, wenn der Mann meinetwegen obduziert wird und es war doch ein natürlicher Tod, dann bin ich blamiert.«
Halverstett war aufgestanden. »Ist Ihnen das schon mal passiert?«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich
Weitere Kostenlose Bücher