Katrin Sandmann 04 - Blutsonne
gefahren. Jule hatte den rosa Mantel an, den wir ihr letzten Winter gekauft haben. Den mit der Pelzkapuze. Sie sah so klein und zerbrechlich aus.« Er konnte nicht weitersprechen .
»Heißt das, du hast gar nicht mit ihnen geredet? Wie war es denn? Hat Jule nichts gesagt?«
Benedikt schüttelte den Kopf. »Ich habe sie vom Auto aus beobachtet. Sie haben mich nicht gesehen. Ich wollte nicht, dass Jule sich aufregt.«
»Warum sollte sie sich aufregen, wenn sie ihren Vater sieht? So’n Quatsch.«
»Du weißt doch, dass sie nicht mal am Telefon mit mir reden will.« Benedikt wandte sich vom Fenster ab und sah seinen Bruder an.
»Daran sind deine beschissenen Schwiegereltern schuld. Die haben Jule gegen dich aufgehetzt. Die konnten dich sowieso nie leiden. Ihre kostbare Tochter und der kleine Masseur aus einfachen Verhältnissen. Die haben doch nur auf eine Gelegenheit gewartet, dich fertigzumachen.« Marc kaute erregt.
Benedikt senkte den Kopf. Er wünschte sich, er hätte seinem Bruder nichts erzählt. Der verstand ihn sowieso nicht. Nicht so, wie er gern verstanden worden wäre. Marc brauste immer gleich auf vor Empörung, hielt ihn an zu kämpfen, sich zu wehren. Aber er wollte nicht mehr kämpfen, nicht so wie Marc jedenfalls.
Sein Bruder knallte die Gabel auf den Tisch. »Das ist alles so unfair! Du hast ein Recht, dein Kind zu sehen. Schließlich hast du nichts verbrochen. Alle behandeln dich wie einen Verbrecher. Und das alles, weil diese Schnepfe nicht bei dir landen konnte. Aber wart’s nur ab. Das wird sich alles regeln. Die wird schon sehen, was sie davon hat!« Er beugte sich vor und klatschte seine Hand auf Benedikts Schulter. »Lass nicht den Kopf hängen. In ein paar Jahren lachst du darüber.«
Benedikt lächelte schwach. Er glaubte nicht, dass er je wieder lachen, dass sein Leben je wieder gut werden würde. Zu viel war geschehen, das nicht mehr rückgängig zu machen war. Sein Bruder meinte es gut, das wusste er, doch er hatte keine Ahnung, wie dreckig es ihm wirklich ging. Er begriff nicht. Niemand begriff. Und deshalb gab es auch nur eine einzige Lösung für sein Problem.
*
Kriminalhauptkommissar Klaus Halverstett stellte den Kaffeebecher auf der Fensterbank ab. Es war Samstagmorgen, kurz nach neun. Er hatte Glück gehabt. Obwohl die Nacht neblig gewesen war, hatte der Mörder nicht zugeschlagen, kein Anruf hatte ihn mitten in der Nacht aus dem Bett gejagt, nirgendwo wartete ein grausam zugerichteter Mensch darauf, dass er und seine Kollegen das Rätsel um seinen zu frühen Tod aufklärten. Noch nicht. Denn es bestand schließlich auch die Möglichkeit, dass irgendwo eine Leiche lag, die bisher niemand gefunden hatte. Halverstett hatte Streifenwagen an die Orte geschickt, an denen es weitere Morde geben könnte. Zu den Richtplätzen, die der Täter noch nicht benutzt hatte. Die Haftanstalt Ulmer Höh . Der Wittlaerer Galgenwerth . Der Spichernplatz . Doch was die älteren Richtplätze anging, waren die Ortsangaben dürftig. Das Stadtbild hatte sich zu sehr verändert. Man wusste nur ungefähr, wo sie sich befunden hatten. Das machte die Sache nicht gerade leichter.
Halverstett griff nach dem Becher. Bis jetzt war sein Telefon stumm geblieben. Aber er spürte, dass heute noch etwas passieren würde. Er trank den restlichen Kaffee und beobachtete, wie ein zerbeulter Opel vor die Schranke am Parkplatz rollte, scharf abbremste und dann zurücksetzte. Der Fahrer schien einen Augenblick zu zögern, dann gab er Gas, und der Wagen verschwand aus Halverstetts Blickfeld. Der wandte sich ab, setzte sich an seinen Schreibtisch und dachte an Veronika. Er hätte ihr gern eine schöne Zeit in Berlin gewünscht, ihr gesagt, dass er ihre Leidenschaft für die Kunst sehr wohl respektiere, auch wenn er nichts damit anfangen konnte. Doch als sie sich gestern Abend von ihm verabschiedet hatte, waren ihm die Worte im Hals stecken geblieben. Er hatte sich einen zweiten Whisky eingegossen und von einem Urlaub auf den Malediven geträumt. Oder in Australien. Irgendwo weit weg, wo jetzt Sommer war, die Sonne einem ein Lächeln aufs Gesicht zauberte und der im Nebel mordende Henker nichts weiter war als eine schemenhafte Erinnerung.
Die Tür wurde aufgerissen.
»Guten Morgen!« Rita Schmitt rauschte ins Zimmer, warf ihre Jacke über die Stuhllehne und machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen.
»Morgen.« Halverstett drückte den Plastikbecher mit der Hand zusammen und versenkte ihn im Müll. Er
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