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KATZ oder Lügen haben schlanke Beine (German Edition)

KATZ oder Lügen haben schlanke Beine (German Edition)

Titel: KATZ oder Lügen haben schlanke Beine (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Zipfel
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Rumänen sind die Schlimmsten. Keine vernünftigen Bremsen, aber die Leute zusammenschlagen. Die sind ja so was von hinterhältig!« nuschelte mein Vater hinter seiner rechten Hand, zwischen deren Finger Blut und Rotz hervorquollen.
    Seine Nase sah aus wie ein schwangeres Radieschen. Es dauerte fast eine Viertelstunde, bis sie aufhörte zu bluten. Dann machten wir uns beide fertig für die Koje. Er legte sich nach oben, mich schickte er nach unten.
    Bevor ich endlich einschlief, fragte ich mich zwischen Vanille-Aroma und Dieselmief, warum immer ich in der benutzten Kabine schlafen musste.
    Pünktlich mit der Schulzeit war meine Fernfahrerkarriere abrupt vorbei. Jetzt sah ich meinen Vater überhaupt nicht mehr, außer ab und zu am Wochenende. Erhebende Momente, in denen ich ihm beim Nickerchen auf dem Wohnzimmersofa zuschauen durfte. Für meine Lehrer und Zensuren, meine Schwierigkeiten und Fortschritte und die Versetzung aufs Gymnasium hat er sich nie interessiert. Und die Entdeckung meines sportlichen Talents, mein Stipendium für besonders aussichtsreiche Sportler – das alles schien komplett an ihm vorbei zu gehen.
    Aber, was hätte er auch schon zu meiner Entwicklung beitragen können? Gar nichts, und das wusste er wohl damals schon besser als ich. Wir waren wie zwei Planeten, im gleichen Sonnensystem zwar, aber auf ganz verschiedenen Bahnen, die sich erst viele Jahre später kreuzen sollten. Das war im Krankenhaus, nach meinem Unfall. Und wieder rauschten wir aneinander vorbei, doch diesmal wenigstens für eine kurze Zeit in Sichtweite.
    Einerseits hatte er sich erstaunlich wenig verändert – immer noch die etwas zu langen, flachsblonden Haare, wenn auch in der Zwischenzeit merklich dünner geworden, immer noch das selbstbewusste, fast provozierend frische Grinsen, immer noch diese Hemdsärmeligkeit, die einem entweder imponierte oder einen wahnsinnig machte. Andererseits war er ein völlig anderer, gezeichnet von einer rätselhaften Krankheit, die ihn portionsweise verschwinden ließ. Von einem Besuch zum anderen wurde er sichtlich – weniger. Verlor zuerst den rechten Fuß, dann den linken Arm, als Nächstes den linken Unterschenkel, gefolgt vom rechten. Und jedes Mal hatte er eine pragmatische Erklärung parat, warum es besser war, gerade diesen Körperteil eingebüßt zu haben und nicht einen anderen. Bis zum nächsten Mal, wenn er dann auch des anderen verlustig gegangen war und mich – oder sich selbst – wortreich wegen dieses Verlustes tröstete.
    Am Ende bestand er nur noch aus Kopf, Rumpf und rechtem Arm. Mit dem bediente er seinen elektrischen Rollstuhl, den er sich von einem Kumpel hatte aufmotzen lassen, mit Ralleystreifen und getuntem Motor. Und einem Schild quer über der Rückenlehne – die Miniaturausgabe seiner frivolen Warnung an das weibliche Geschlecht: »Damen, aufgepasst ...!!!«
    Bei seinen Besuchen kurvte er mit breitem Grinsen durch die Krankenhausflure, haarscharf an Sitzbänken, Tropfgestellen und entsetzten Krankenschwestern vorbei, und demonstrierte in Zimmern und Fluren die Wendigkeit seines Gefährts und die Geschicklichkeit des Fahrers, rangierte rasant, rückwärts und millimetergenau, in imaginäre Parklücken zwischen Tisch und Stuhl und rief nach geglücktem Manöver stolz: »Gelernt ist gelernt, was Arno? Ein echter Trucker eben!«
    Ich grinste ihn dann an und nickte anerkennend. Und die Rührung saß wie ein dicker Kloß in meinem Hals.
    Bei seinem letzten Besuch legte er die rechte Hand auf meinen Arm. Es war das erste Mal seit hundert Jahren, dass er mich berührte. Ich sah mit einiger Bestürzung, dass an der Hand der kleine Finger fehlte. Bald würde es also aus sein mit seinen imposanten Rollstuhlfahrten. Und was dann?
    »Weißt du eigentlich, dass ich immer sehr stolz auf dich gewesen bin, Arno?«, sagte er ungewöhnlich leise und ungewöhnlich ernst. »Tut mir leid, dass ich mich nicht immer ganz so um dich gekümmert habe, wie es hätte sein sollen. Ich weiß schon, ich weiß schon.«
    Heiliges Auspuffrohr – das war die Untertreibung des Jahrhunderts: »nicht immer ganz so gekümmert!« Aber ich begriff gleichzeitig in diesem Moment, dass es nie böser Wille oder fehlende Zuneigung gewesen war, weshalb er sich verhalten hatte, wie er sich verhalten hatte. Er hatte einfach nicht anders gekonnt.
    Das war das letzte Mal, dass wir uns sahen. Drei Tage später, an einem Donnerstag, begab er sich auf große Tour. Den Akku seines Rollstuhls bis zum Anschlag

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