KATZ oder Lügen haben schlanke Beine (German Edition)
Lebensmittelladen vom Opa und ab und zu im ›Goldenen Hirschen‹. Mei, sie ist immer so fleißig gewesen, die Maria. Ich seh’ sie noch früh morgens mit ihrem großen Schulranzen zum Schulbus gehen, gerade so, als wär’s erst gestern gewesen«, sagte Agnes Bunzenbichler mit verklärtem Stolz. Und dann, so leise, dass man es kaum verstehen konnte: »Furchtbar, dass dann alles so hat kommen müssen ...«
»Was meinen Sie damit, Frau Bunzenbichler, was hat so kommen müssen?« hakte Sonia sanft nach. Aber es half nichts, Agnes Bunzenbichler richtete sich kerzengerade auf und schlug uns die Tür zu ihren Erinnerungen vor der Nase zu.
»Ach nichts! Das ist eine Geschichte, die geht niemanden etwas an, nur Maria, meinen Josef selig und mich. Wenn sie halt nicht gar so ein hübsches Ding gewesen wäre, die Maria. Dann wäre vielleicht alles anders gekommen. Aber die Mannsbilder sind halt alle gleich! Alle!« Marias Mutter musterte Sonia eindringlich. »Sie wissen schon, was ich meine, gell, Fräulein?«
Sonia schwieg. Und mir wurde mulmig: Frauensolidarität und Männerschelte, bloß das nicht! Und schon gar nicht jetzt.
»Sie haben doch bestimmt Fotos von Ihrer Tochter aus dieser Zeit, Frau Bunzenbichler«, warf ich eilig dazwischen, »die würden wir uns gerne ansehen, wenn’s Ihnen nichts ausmacht.«
»Da muss ich Sie enttäuschen, Herr ...«
»... Katz ....«
»Herr Katz. Maria hat alles verbrannt, bevor sie nach München gegangen ist. Die ganzen Fotos, ihre Schulhefte, die schönen Aufsätze, ihre Bücher. Sogar die Reste von ihrer Lieblingspuppe hab ich im Kachelofen gefunden.«
»Und warum hat Maria das gemacht?«
Agnes Bunzenbichler presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. Dann deutete sie plötzlich auf die Herrgottsecke über ihrem Kopf.
»Das einzige Foto, das ich von Maria habe, steht da oben.«
»Darf ich?«, fragte ich, während ich gleichzeitig schon aufstand, um mir das Bild zu nehmen und anzusehen. Ich verließ mich einfach darauf, dass Journalisten sowieso als krankhaft neugierig gelten, und wartete die Antwort deshalb gar nicht erst ab.
Das Schwarz-Weiß-Foto zeigte auf den ersten, flüchtigen Blick, die perfekte Idylle: ein stolzer Vater, nicht mehr ganz jung, aber auch noch nicht alt, die Haare, obwohl kräftig gelockt, schon ziemlich licht, mit seiner kleinen Tochter auf dem Arm. Auf den zweiten Blick jedoch der blanke Horror: Verstörte Verzweiflung im hübschen Kindergesicht, der kleine Oberkörper so weit wie nur möglich zur Seite gebogen auf der verzweifelten Suche nach körperlicher Distanz, das Lächeln des Mannes zu starr, seine Augen kalt wie Flüssiggas in einem runden, kinnlosen Gesicht, der Griff seiner Hand zu fest um diesen kleinen Oberschenkel.
»Wie alt war Maria da?«
»Drei oder vier.«
Ich nickte und reichte Sonia das Foto herüber. Sie verstand sofort und fotografierte es kurzerhand ab.
»Sie sagten vorhin, Sie hätten Maria schon lange nicht mehr gesehen. Hat sie Sie denn zwischendurch nicht besucht?«
»Nein. Maria ist nie mehr nach Prutting gekommen. Aber, dass Sie mich nicht falsch verstehen: Ich werfe ihr nichts vor! Sie gehört halt schon lange nicht mehr hierher. Ja mei, ich versteh’ das.«
Ich verstand das auch. Und noch einiges mehr. Prutting und München, dieses Kinderfoto und das, was man unter einer glücklichen Kindheit versteht: zwei Ebenen von Realität, die sich nie versöhnen würden.
»Wann, sagten Sie, ist Maria nach München gegangen?«
»Kurz nach dem Unfall vom Josef. Mein Gott, im Straßengraben haben sie ihn damals gefunden, stellen Sie sich vor, im Straßengraben! Am frühen Morgen, mitten im Winter, stocksteif gefroren. Er hatte zu viel getrunken, haben sie gesagt, ist deshalb gestürzt, eingeschlafen und im Schlaf erfroren. Dabei hat mein Mann Alkohol nie angerührt. Und dann finden sie ihn im Graben mit vier Promille im Blut! Ich hab’ bis heute nicht begriffen, wie das passieren konnte. Kurz danach ist Maria dann nach München gegangen. Aber ich will mich nicht beklagen. Der Herrgott hat alles so gewollt. Man muss seinem Willen gehorchen und das Schicksal annehmen. Und hoffen. Vielleicht finden wir irgendwann doch wieder zusammen und ich kann alles gutmachen.«
Es wurde still in der Bunzenbichlerschen Dämmerbude. Aber es war diese Stille, die einem in den Ohren saust. Und durch meinen Kopf schwirrten die Einzelteile eines verwirrenden Puzzles aus Erinnerungen, Fakten und vagen Andeutungen, die ich zu keinem
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