KATZ oder Lügen haben schlanke Beine (German Edition)
der man wenigstens gut angezogen war, wenn man denn schon Drecksarbeit verrichtete. Jetzt hielten sich beide gegenseitig am Arm und schienen jede Menge Gründe zu haben, sich am Leben zu freuen. Lachten über das ganze Gesicht, nur in den Augenwinkeln, ganz hinten, hinter den sieben Lachfältchen bei den sieben Machtgelüsten, wohnten Kain und Abel.
Auf den restlichen Seiten meldeten sich alle möglichen halb bekannten Gesichter zu Wort, ritten auf ihren Steckenpferdchen durch die politische Landschaft und trampelten platt, was ihnen im Weg war. Ich setzte sie alle im Geiste zu einem Gruppenbild zusammen – grandiose Mannschaft, grandiose Arbeit, grandiose Aussichten. Heilige Geisterbahn – um die Zukunft brauchte man sich bei dem Personal wirklich keine Sorgen zu machen!
Schnell noch einen Blick in den Lokalteil: Die Honoratioren aus Stadt und Land gratulierten einer Emmi Pichler aus Rosenheim zum hundertsten Geburtstag. Die »rüstige Jubilarin« sah witzigerweise viel jünger aus als die anderen auf dem Foto, vielleicht weil sie ebenso verschmitzt wie verknittert in die Kamera strahlte, ganz so, als wollte sie in ihrem zweiten Jahrhundert jetzt aber endlich mal die Sau rauslassen.
Den Aufmacher in der Rubrik »Aus dem Landkreis« lieferte ein Autounfall, der sich vorletzte Nacht ereignet hatte. Drei Jugendliche waren auf dem Heimweg von der Disco, nicht mehr besonders nüchtern, wie vermutet wurde, gegen einen Baum gerast. Grotesk deformiertes Blech, aus dem man die Drei hatte herausschneiden müssen, die 17-jährigen Beifahrer als Leichen, den Fahrer, seit vierzehn Tagen stolzer Besitzer des Führerscheins, als menschliche Hülle, in der so gut wie nichts mehr heil oder an seinem Platz war. Irgendein Zufall, vielleicht nur eine winzige Nichtigkeit, hatte darüber entschieden, dass nur er überleben sollte. Aber so war das eigentlich immer schon: Wir alle fahren durch unser Leben wie auf einer gigantischen Achterbahn, mit kreischenden Rädern über schmale Schienen, und von Zeit zu Zeit klemmt das Schicksal – aus Bosheit oder Langweile, wer weiß das schon? – ein Steinchen in eine Weiche, ein winziges Steinchen, das kaum zu sehen ist, aber dennoch groß genug, um den nächsten Wagen aus der Bahn zu werfen. Und wenn man Pech hat, ist das genau der, in dem man selber sitzt.
Ich bekam einen trockenen Mund. Bei mir war es damals nicht anders gewesen. Eine Folge von Zufällen, die sich aneinanderreihten, jeder Einzelne von ihnen lächerlich harmlos, und am Ende trotzdem eine veritable Katastrophe. Warum wir damals einen Tag früher als geplant losgefahren waren? Zufall, Kopetzke hatte halt die Gelegenheit nutzen wollen, seinen Onkel zu besuchen, wenn er schon mal nach Berlin kam. Warum wir auf der Landstraße unterwegs waren und nicht auf der Autobahn? Zufall, wir wollten einem Stau ausweichen, der sich längst schon aufgelöst hatte, als wir vorsorglich die Autobahn verließen. Warum ich überhaupt in diesem Auto saß, auf dem Weg nach Berlin, und nicht in der Sporthochschule in Köln, wo ich als Student schließlich hingehörte? Weil ich mir mein Studium mit verschiedenen Jobs finanzieren musste, unter anderem als Stuntman beim Film. Das heißt, zuerst mehr als Komparse, bis ich eines Tages einsprang, als ein durchtrainierter junger Mann für eine Verfolgungsjagd gesucht wurde. Auf einem Fahrrad! Mir machte das Ganze ziemlichen Spaß und auf die Film-Crew anscheinend ziemlichen Eindruck. Man bescheinigte mir Talent, machte mir ein Angebot für eine Ausbildung zum Stuntman und stellte mir einen Verdienst in Aussicht, »der nicht von schlechten Eltern sei«. Hörte sich für mich verlockend an, hieß nämlich: keine Nachtschichten mehr im Taxi, mit kotzenden Männern und heulenden Frauen. Dafür etwas, womit ich Geld verdienen konnte und das mit meinem Studium zu tun hatte. Wenigstens im weiteren Sinne.
Und so kam es dann zu diesem Job in Berlin – Vorabend-Krimiserie, mindestens fünfundzwanzig Folgen, jede Menge Stunts.
Wir waren also unterwegs auf der Autobahn, Bernd Kopetzke, der alte Stunt-Haudegen, am Steuer und ich daneben. Draußen Scheißwetter und dichter Verkehr. Schemen, mehr nicht, in der Gischt von aufgewirbeltem Regenwasser, schreiende Bremslichter, die unsere Schrecksekunden grell ausleuchteten. Auch Stuntmen hassen kaum etwas mehr als Autofahren bei Scheißwetter im dichten Verkehr. Vielleicht sogar besonders sie, weil sie da das Risiko nicht kalkulieren können, die anderen Leute nicht
Weitere Kostenlose Bücher