KATZ oder Lügen haben schlanke Beine (German Edition)
erfuhr ich später von Kopetzke, den es zwar schlimm genug, aber doch weniger erwischt hatte als mich. War eben angeschnallt gewesen.
Soweit zum »Wie«. Über das »Warum« las ich dann später in der Zeitung: Ein Jugendlicher hatte – »um mal zu sehen, wie das so abgeht« – einen Ziegelstein von einer Überführung fallen lassen, die Kleinkleckersheim Ost mit Kleinkleckersheim West verband. Der Stein war durch die Windschutzscheibe auf das Lenkrad geschlagen, hatte dabei drei Finger von Kopetzkes rechter Hand zerquetscht, war dann von dort auf sein Schlüsselbein geprallt, dass er in zwei gleiche Teile spaltete, sodass Kopetzke vor Schmerz und Schreck die Kontrolle über den Wagen verlor und rechts in die Böschung fuhr, was mich, unangeschnallt wie ich war, durch die Windschutzscheibe katapultierte, genau auf diesen Stein zu, der gar nicht mal so groß war, aber dafür spitz, und der, wie es schien, nur auf mich gewartet hatte.
Als ich wieder zu Bewusstsein kam, lag ich im Krankenhaus, bis zur Hüfte eingegipst in ein juckendes Korsett. Das rechte Bein, mehrfach gebrochen, war fast schon verheilt, ebenso die Hüfte, deren Einzelteile die Ärzte in etlichen Stunden und aus etlichen Einzelteilen wieder zusammengebastelt hatten.
Das alles war schon schlimm genug. Das Schlimmste aber war, dass ich am Unfallort ins Koma fiel, und zwar für sehr viel länger, als es mein Gehirn für angemessen hielt. Und das bedeutete: Als ich endlich wieder zu mir kam, war ich komplett auf null gestellt. Essen, Trinken, Sprechen, Laufen – alles neu für mich. Zu lernen gab es also reichlich: Wie man mit Messer und Gabel isst, ohne sich dabei zu verletzen; wie man beim Laufen einen Fuß vor den anderen setzt, ohne so lange darüber nachzudenken, dass man strauchelt; wie man sitzt und steht, sich bückt und legt und wieder aufsteht, wann und wie man will, ohne Hilfe, ohne Krücken, ohne die ohnmächtige Wut der Hilflosigkeit. Das alles eignete ich mir wieder an, jetzt schon zum zweiten Mal in meinem Leben. War ungeheuer stolz über jeden kleinen Fortschritt, über die ersten, unfallfreien Schritte durch den Flur zum Beispiel, auf dem sich selten jemand blicken ließ, um Arnos Leistung auch gebührend zu bewundern.
Die beiden Jungens »aus dem Landkreis«, die von der Disco nie nach Hause kommen sollten, hatten weit weniger Glück gehabt. Und den dritten würde die Erinnerung an diesen Tag belauern und verfolgen wie ein Raubtier, das geschwächte Beute wittert. Das wusste ich, das kannte ich, das tat mir leid.
In der Fensterscheibe der Lokalredaktion sah ich die Spiegelung meines Gesichts, die mich wieder in die Gegenwart zurückzwang. Den Mund immer noch ausgetrocknet, räusperte ich mich, schluckte zwei Mal, schnaufte kurz durch und betrat die Redaktion des Rosenheimer Tagblatts.
Der hohe, weiße Empfangstresen wirkte so einladend wie einst die Berliner Mauer. In der Mitte des Raums saß eine Frau hinter ihrem Schreibtisch. Hätte sie eine andere Frisur, andere Klamotten, einen anderen Gesichtsausdruck und eine andere Figur gehabt, dann hätte ich ihr Alter genauer schätzen können. So kam ich auf irgendetwas zwischen sechsundzwanzig und dreiundvierzig.
Sie stand auf – und zwar nicht allzu schnell, wahrscheinlich um mich nicht zu erschrecken –, kam zu mir an den Tresen und schaute mich erwartungsvoll an. Eigentlich sah sie ganz nett aus. Ein bisschen langweilig vielleicht, aber es war ja auch nicht ihr Job mich aufzuregen.
»Guten Tag, was kann ich für Sie tun?«, leierte sie in diesem spezifischen Callcenter-Knödelton, der so richtig Lust auf mehr machte.
Ich überlegte einen Moment lang, ob ich nicht vielleicht eine Kontaktanzeige aufgeben sollte, um mal meine Chancen bei den flotten Landfrauen anzutesten.
»Möchten Sie vielleicht eine Annonce aufgeben?«, fragte sie eine halbe Oktave höher. Sie schien ziemlich schnell ungeduldig zu werden.
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich möchte mit ihrem Redakteur Hubert Haunerdinger sprechen. Ist der zufällig im Hause?«
Sie drehte ohne weitere Antwort den Kopf über die rechte Schulter und rief in den Nebenraum: »Hubsi, kommst Du mal? Da will dich jemand sprechen!« Dann drehte sie den Rest ihres Körpers in die Richtung, in die ihr Gesicht sowieso schon guckte, steuerte auf ihren Schreibtisch zu und setzte sich wieder. Ein rationeller und kräfteschonender Bewegungsablauf, das musste man ihr wirklich lassen.
Aus dem Nebenraum kam Hubert Haunerdinger. Er sah aus wie
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