Katzenbach: Kriminalroman (German Edition)
leicht angespannten Atmosphäre
in seiner Praxis nichts.
Der Anblick
der armen kleinen Luzia Attinger hatte ihn nicht im Geringsten schockiert, während
sie, Sibel, zutiefst erschrocken war und sich abwenden musste, um sich wieder zu
fassen.
»Das ist
ja furchtbar«, hatte sie gestottert, als Frau Attinger wieder weg war.
»Wieso denn?«,
hatte der Doktor verständnislos gefragt. »Dieses Kind ist ein sehr interessanter
Fall. Ich werde seine Entwicklung genau mitverfolgen. Es gibt in der Wissenschaft
nicht sehr viel Literatur über dieses Problem. Die anderen vier oder fünf Kinder
mit Ambras-Syndrom, die es auf der Welt derzeit gibt, leben in Indien und auf den
Philippinen. Ich werde darüber publizieren können.«
Sibel hatte
beeindruckt geschwiegen. Aber sie hatte sich gefragt, ob Doktor Capeder denn kein
Mitleid hatte mit diesem bedauernswerten Geschöpfchen, das nie würde ein normales
Leben führen können. Nun gut, seine Aufgabe war es, über die Gesundheit des Kindes
zu wachen. Und das tat er. Es war ihm sogar aufgefallen, dass die Mutter mit Luzia
nicht zur Zweimonatsuntersuchung gekommen war, und jetzt würde er sich eine volle
halbe Stunde für die Routineuntersuchung und die Impfungen Zeit nehmen.
Frau Attinger
kam pünktlich. Auf dem einen Arm hatte sie Luzia, an der anderen Hand Lotte, die
ihrerseits eine schwarze Plüschkatze fest an sich drückte. Sie schien Sibel Evren
irgendwie verändert zu sein. Sie nahm ihr den Säugling ab, um ihn zu wiegen und
zu messen. Alles war im normalen Bereich. Luzia war gewachsen und hatte tüchtig
zugenommen, sie war sechzig Zentimeter lang und wog sechs Kilogramm. Auch der Kopfumfang
war normal. Sie brachte das Kind der Mutter ins Wartezimmer. Lotte saß eng an die
Mama geschmiegt.
»Magst du
nicht spielen, Lotte?«, fragte Sibel und wies auf die Spielsachen. »Letztes Mal
hat dir doch der Puppenwagen so gefallen.«
Aber Lotte
schüttelte nur den Kopf. Irgendetwas ist anders, dachte Sibel. Lotte war doch früher
nicht so schüchtern. Dann fiel ihr auf, wie die Mutter das Baby hielt: wie ein Paket,
das man gleich über den Postschalter schieben wird. Sie schaute es nicht an, streichelte
es nicht. Ihr Blick, der an die gegenüberliegende Wand ging, war, wie sollte sie
es nennen, abwesend, stumpf. Sie kümmerte sich auch nicht um die ältere Tochter,
die eine Hand des Babys hielt.
Zehn Minuten
später bat Sibel Evren Frau Attinger mit den Kindern ins Sprechzimmer und wies sie
an, Luzia auszuziehen, was sie mit unsicheren Bewegungen tat. Der Doktor trat ein
und bat sie zum Besprechungstisch. Nadine Attinger ließ das nackte Baby auf dem
Wickeltisch liegen. Sibel nahm es rasch hoch und brachte es ihr. »Es ist besser,
Sie halten sie, nicht, dass sie noch herunterfällt.« Sie sagte es mit einem Lächeln,
aber innerlich war sie beunruhigt. Es gab kleine Zeichen, an denen sie merkte, was
für eine Beziehung eine Mutter zu ihrem Kleinkind hatte. Wie sie es anschaute. Wie
sie es berührte, es im Arm hielt, zu ihm sprach. Dass eine Mutter ihr Baby einfach
auf der Liege ließ, kam selten vor. Solche Dinge schien Doktor Capeder nicht wahrzunehmen.
Er befragte
die Mutter jetzt ausführlich zum Verhalten des Kindes, zu seinem Schlaf-Wach-Rhythmus,
zu den Trinkgewohnheiten. Sie gab mit leiser Stimme Antwort, und er machte sich
genaue Notizen. Seine Publikation, dachte Sibel. Dann nahm er das Baby, prüfte seine
Reflexe, seine Kopfkontrolle, beobachtete seine Bewegungen.
»Lächelt
sie schon?«, wollte er wissen.
Nadine schüttelte
den Kopf.
»Damit wird
sie in nächster Zeit beginnen.«
Dann zog
er die Impfspritze auf. Lotte schaute erschreckt weg. Beim Pieksen begann Luzia
zu schreien, beruhigte sich aber rasch wieder.
»Es ist
alles normal«, sagte Capeder dann zu Nadine. »Wie kommen Sie zurecht mit der Behaarung?
Rasieren Sie sie oft?«
»Nein«,
sagte Nadine, »sie mag es nicht, sie beginnt zu weinen.«
»Sie brauchen
sich keine Sorgen zu machen. Ich habe mich über das Ambras-Syndrom informiert. Es
ist zu erwarten, dass sich das Kind körperlich und geistig normal entwickelt. Seine
Intelligenz wird nicht beeinträchtigt sein.«
Sibel Evren
ärgerte sich, merkte er nicht, dass sich diese Mutter sehr wohl Sorgen machte? Sie
war ja völlig niedergedrückt. Dass das Baby aß und schlief und lernen würde zu gehen,
zu lesen und zu rechnen, löste das Problem ja wohl nicht. Aber Capeder war zufrieden
mit der Untersuchung.
»Vergessen
Sie nicht wiederzukommen, wenn
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