Katzenbach: Kriminalroman (German Edition)
sie in Silvaplana
sein, und von dort aus in einer Viertelstunde in Sils Maria. Weg von der Welt, dachte
Nadine. Niemand außer Leon weiß, wo wir sind. Niemand kann uns behelligen, niemand
kann uns Böses wollen.
Im Hotel
Waldhaus, einem über hundertjährigen imposanten Hotelkasten auf einem bewaldeten
Hügel, bezogen sie ihr Zimmer. Nadine packte ihre Sachen aus, hängte ihr Abendkleid
in den Schrank und stellte ihre Pflegeutensilien ins Kästchen im Badezimmer. Ich
richte mich ein, als ob ich hier bleiben würde, ging ihr durch den Kopf. Möchte
ich das? Nie mehr zurückgehen? Aber das war ein Gedanke, den sie sich sofort verbieten
musste. Sie öffnete die Balkontür, setzte sich für eine Minute auf einen der Stühle
und schaute zum Silsersee, auf dem die Sonne glitzerte. Wie in einem Märchen, dachte
sie. Sie sprang auf. »Komm, wir gehen spazieren.« Stefan war schon daran, in seine
Turnschuhe zu schlüpfen. Er freute sich, Nadine lebhaft zu sehen. Sie lächelte ihn
an. Wann hatte er sie zum letzten Mal lächeln sehen? Sie lachen hören? Er nahm sich
vor, sie an diesem Wochenende wenigstens einmal zum Lachen zu bringen. Er atmete
tief durch. Vielleicht brachte dieses Wochenende wirklich eine Wende. Nadine würde
Sonne tanken, sich ausruhen, ihre Lebensgeister würden zurückkehren. Vielleicht
würden sie nach den Sommerferien für einen Tag pro Woche einen Krippenplatz für
Luzia suchen, damit Nadine wieder etwas Zeit für sich hatte. Er küsste sie aufs
Haar. »Vergiss deine Sonnenbrille nicht.«
Sie gingen
über die weite Ebene zum See, machten einen Rundgang über die lang gezogene Halbinsel
Chastè, wo die Sonne durch die Bäume hindurch ein Schattenmuster auf den Weg zeichnete.
»Es riecht hier wie in einem Wald in Italien«, sagte Nadine, »nach Pflanzen, die
im Süden wachsen und deren Duft von der Sonnenwärme verstärkt wird.« Sie setzten
sich auf eine Bank am Seeufer. Es war sehr ruhig. Ab und zu hörten sie Stimmen von
Spaziergängern oder ein Hund kam herangerannt, umkreiste die Bank und sprang wieder
weg. Stefan erzählte von seiner Arbeit, kleine, alltägliche Geschichten. Nadine
hatte ihn danach gefragt, fast schüchtern. Zum ersten Mal seit Langem zeigte sie
wieder ein wenig Interesse an etwas, was sich außerhalb des kleinen Kreises ihrer
Familie abspielte. Ich war nicht fair, dachte Stefan, ich habe sie im Stich gelassen
mit Luzia. Er erinnerte sich mit Dankbarkeit an den Moment, an dem er begonnen hatte,
Luzia zu akzeptieren und liebzuhaben. Nadine hatte natürlich nichts von seinem Widerwillen
gewusst, und sie durfte auch nie davon erfahren. Aber seit es in ihm drin anders
aussah, konnte er ihr mehr Unterstützung geben. Sie würde sich erholen, und sie
würden wieder eine glückliche Familie sein wie damals, als Lotte zur Welt gekommen
war.
Nadine schloss
die Augen. Die Wärme machte sie angenehm träge. Sie hörte Stefans vertraute Stimme,
ohne ihm genau zuzuhören. Ob Leon den zweiten Schnuller gefunden hatte? Luzia wurde
wütend, wenn sie keinen hatte, und die kleinen Dinger gingen so schnell verloren.
Nicht daran denken, sagte sie sich. Sie schlug die Augen auf. »Ich bin hungrig.
Gehen wir was Kleines essen?«
Sie schlenderten
über die Ebene zurück und setzten sich in ein Café. Neben ihnen ließ sich eine Familie
mit zwei Kindern nieder. Das eine war ein vielleicht zehnjähriger lebhafter Junge,
der andere Junge war etwa sechs. Er saß in einem Rollstuhl, ab und zu machte er
mit den Armen unkoordinierte Bewegungen, und sein Gesicht verzerrte sich. Sprechen
konnte er nicht. Die Eltern fragten ihn, was er trinken wolle, und bestellten ihm
eine kalte Schokolade. Wahrscheinlich konnten sie die Zeichen deuten, die er von
sich gab. »Guck mal, Oliver«, rief der ältere Junge, »dort kommt das Postauto.«
Oliver schaute, und eine Art Lachen zog über sein Gesicht. Nadine schaute sich unauffällig
um. Starrten die Leute? Oder sahen sie betont weg? Oder war alles ganz normal? Sie
fühlte sich hilflos, nicht imstande, die Situation zu beurteilen. Beim Gedanken,
Stefan und sie säßen hier mit Lotte und Luzia, einer vielleicht dreijährigen Luzia,
die herumrannte und andere Kinder ansprach, begann ihr Herz wieder heftig zu klopfen
und ihre Handflächen wurden feucht. Sie beobachtete die Mutter des behinderten Kindes.
Sie schien völlig unbefangen zu sein.
»Was nimmst
du?«, fragte Stefan.
Nadines
Kopf war vollkommen leer, sie hatte keine Ahnung, was sie bestellen wollte. War
sie
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