Katzenbach: Kriminalroman (German Edition)
erschrocken eingewandt. Der Gedanke machte ihr
Angst. Aber ihr Bruder hatte nicht lockergelassen.
»Glaubst
du, dass ich mit einem Baby nicht fertigwerde?«
»Doch, natürlich,
aber –«
»Eben.«
Leon war vorbereitet gewesen. Er hatte seine Agenda gezückt und ein paar Vorschläge
gemacht.
»Aber bist
du nicht besetzt an den Wochenenden?«
Er lachte.
»Carla? Die wird halt einmal ohne mich auskommen müssen.«
»Warum denn
nicht?«, hatte Stefan sich eingeschaltet. »Das würde dir doch guttun, Nadja.«
Ein Wochenende
weg. Nur mit Stefan. Ohne die Kinder. Wie früher. Langsam hatte sich zaghafte Freude
in ihre Bedenken gemischt. Aber wie würde es sein, allein mit Stefan? Würde er merken,
was mit ihr los war? Oder würde sie sich vielleicht wirklich besser fühlen?
Was sie
nicht wusste, war, dass sich die beiden Männer vorher schon abgesprochen hatten.
»Nadine ist so gewissenhaft, sie gibt ihre ganze Fürsorge und Aufmerksamkeit den
Kindern, und das erschöpft sie«, hatte Stefan zugegeben, als Leon ihm seinen Vorschlag
gemacht hatte. Leon war nicht so sicher gewesen, ob es nur Fürsorglichkeit war,
die Nadine so müde und gedrückt machte. Aber er hatte nichts gesagt. Stefan war
seinem Schwager dankbar gewesen für sein Angebot. Nadine war in der letzten Zeit
so verschlossen geworden. Er wusste nicht, was in ihr vorging. Und müde war sie.
Es sei Eisenmangel, hatte sie ihm gesagt. Sie schluckte große hellblaue Dragées.
Morgens blieb sie im Bett liegen, wenn er aufstand. »Schon okay«, hatte er gesagt.
Er gewöhnte sich an, den Wecker früher zu stellen und, bevor er zur Arbeit ging,
die Kinder zu versorgen. Eisenmangel. Das hatte sie nach Lottes Geburt auch gehabt,
und nach ein, zwei Monaten war es ihr wieder gut gegangen. Es wäre sicher schön
für sie, mal aus dem Alltagstrott herauszukommen.
»Also, am
ersten Juniwochenende?«, hatte Leon gesagt. Und Nadine hatte genickt.
Jetzt fuhren
sie Richtung Engadin, auf der Autobahn nach Chur. Es war morgens um halb zehn, sie
würden noch vor dem Mittag dort sein. Mit etwas Herzklopfen dachte Nadine an den
Inhalt ihres Koffers. Das tannengrüne Seidenkleid. Die goldene Kette, die ihr Stefan
zum dreißigsten Geburtstag geschenkt hatte. Das Sommerparfum, ebenfalls von Stefan.
Allmählich entspannte sie sich. Die Sonne schien, es war warm, und tatsächlich kam
es ihr so vor, als rückten die Schatten und die Schwere der letzten Monate ein wenig
in die Ferne. Sie sprachen wenig während des Fahrens. Stefan konzentrierte sich
auf den Verkehr. Sie waren nicht die Einzigen, die an diesem Samstagmorgen zu einem
Wochenendausflug aufgebrochen waren. Er fuhr gern schnell, hielt sich aber wegen
seiner Frau zurück. Nadine hörte der Musik zu. Sie hatte eine Vorliebe für italienische
Cantautori, für die Stefan sie ab und zu neckte. Aber jetzt hatte er eine Lieblings-CD
von Nadine eingelegt, etwas Altes von Lucio Dalla.
Plötzlich
fing sie an, nervös in der Handtasche zu kramen. »Was suchst du?«
»Ach, ich
habe vergessen, Leon zu sagen, dass im Kühlschrank ein Auflauf steht, den ich vorbereitet
habe und den er nur noch in den Ofen schieben kann. Ich will ihn rasch anrufen.«
Stefan legte
einen Moment seine Hand auf die ihre. »Den wird er schon sehen. Oder Lotte sagt
es ihm. Vielleicht geht er mit ihnen ja auch ins McDonald’s essen.«
»Meinst
du?«, fragte Nadine alarmiert.
Stefan lachte.
»Und wenn schon. Mach dir jetzt keine Gedanken.«
Aber einen
quälend langen Moment erstand das Bild vor Nadines Augen, wie Leon mit Lotte und
Luzia im McDonald’s saß, wie Lotte vergnügt in einen Hamburger biss, wie sich fremde
Leute über Luzias Wagen beugten – und dann schockiert zurückwichen, sich eilig zurückzogen
und zwei Tische weiter miteinander flüsterten und Blicke warfen. Die Angst wollte
wieder in ihr aufsteigen, aber sie strengte sich an, sie wegzuschieben. Der Gedanke
an Leon half ihr dabei. Leon würde die Situation im Griff haben, sie stellte sich
sein unbekümmertes Gesicht vor, nein, sie musste sich wirklich keine Sorgen machen.
Wenn ihr jemand für zwei Tage ihre Last abnehmen konnte, war es Leon. Sie steckte
das Handy in die Handtasche zurück. Das war ja auch Teil der Abmachung: »Keine besorgten
Kontrollanrufe«, hatte Leon sich ausbedungen. »Wenn was ist, melde ich mich.«
Sie fuhren
jetzt über den Julierpass. Die karge Landschaft über der Baumgrenze mit kurzgemähten
Bergwiesen und großen Steinblöcken gefiel Nadine. Bald würden
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