Katzenbach: Kriminalroman (German Edition)
nicht mehr. Lotte
hatte sich verändert, das war ihr aufgefallen. Sie war still und schüchtern geworden,
wollte ständig in ihrer Nähe sein, was sie manchmal schlecht aushielt. Aber sie
wehrte sich nicht. Lotte suchte bei ihr etwas, worauf sie ein Recht hatte. Aber
sie konnte es ihr nicht mehr geben.
Es war halb
sechs Uhr geworden. Ich sollte noch etwas schlafen, dachte Nadine verzweifelt. Wie
soll ich mich Stefan gegenüber verhalten, wenn wir aufstehen? Ich werde meinen Weinkrampf
auf den Alkohol schieben, das wird er mir glauben. Ich werde mich heute besonders
heiter geben, ich muss versuchen, den Tag zu genießen, damit ich es nachher wieder
besser aushalte. Ich muss einfach, es gibt keinen Ausweg, dies ist mein Leben, und
es gibt für mich kein anderes. Sie fiel in einen leichten, dämmrigen Schlaf.
Um acht
Uhr stand sie auf, leise, Stefan schlief noch. Sie wusch sich das Gesicht mit viel
kaltem Wasser, duschte, schminkte sich sorgfältig. Keine Spuren der vergangenen
Nacht durften sichtbar sein, nicht der Schlafmangel, nicht die Verzweiflung, nicht
die Tränen. Als sie angezogen ins Zimmer zurückkam, sah Stefan ihr entgegen. Unsicher.
Bevor er etwas sagen konnte, ging sie auf ihn zu, kauerte sich am Bettrand nieder.
»Bitte,
entschuldige«, flüsterte sie, »ich habe mich so furchtbar benommen gestern Nacht.
Ich vertrage einfach keinen Alkohol.«
»Das war
doch nicht nur der Alkohol«, wandte er ein. »Es geht dir nicht gut.«
»Doch, bestimmt.
Ich bin nur müde, weil Luzia nie durchschläft und Lotte oft so quengelig ist.«
»Ich werde
dir mehr helfen«, versprach Stefan. »Aber dich bedrückt doch noch etwas? Ist es,
weil sich meine Mutter so unverschämt benommen hat? Oder weil Eliane sich zurückgezogen
hat?«
»Ja, manchmal.
Aber das ist nicht wichtig, wir müssen zusammenhalten.«
»Du bist
so tapfer, vielleicht überforderst du dich. Vielleicht sollten wir doch einmal mit
einer Familienpsychologin reden, die diese Probleme kennt?«
»Nein«,
wehrte Nadine rasch ab, »das brauche ich nicht. Es geht schon. Bitte, denk nicht
mehr an letzte Nacht. Lass uns heute einen schönen Tag haben.« Sie war tödlich erschrocken.
Ein Gespräch mit einer Psychologin? Dann würde womöglich ihr furchtbares Geheimnis
herauskommen. Nie.
Stefan stand
unter der Dusche und ließ heißes Wasser über seinen Körper laufen. Er wurde nicht
klug aus seiner Frau. Vorhin hatte sie wieder einen ganz normalen, vernünftigen
Eindruck gemacht. Aber ihr nächtlicher Zusammenbruch, das konnten nicht nur die
paar Gläser Wein und Champagner gewesen sein. Wahrscheinlich hatte ihr das Verhalten
seiner Mutter mehr zugesetzt, als sie zugeben wollte. Sie hatte recht, sie mussten
zusammenhalten, die Kinder in Schutz nehmen, dann würden sie es schon schaffen.
Er dachte daran, dass Lotte jetzt wahrscheinlich mit Leon beim Frühstück saß und
Luzia daneben auf dem Teppich auf der kleinen Matratze lag, und er hatte ein bisschen
Heimweh nach seinen Töchtern. Aber seine Sorgen um Nadine ließen sich nicht verscheuchen.
Meine Frau ist unglücklich, gestand er sich ein, und sie versucht es vor mir zu
verheimlichen. Warum bloß? Wir stehen ja vor demselben Problem, warum stehen wir
nicht zusammen?
Nach dem
Frühstück gingen sie den See entlang nach Maloja, saßen in der Sonne, aneinandergelehnt,
tranken einen zweiten Kaffee in einem Gartenlokal. Aber die gestrige Unbeschwertheit
wollte sich nicht mehr einstellen. Im Laufe des Nachmittags machten sie sich auf
die Heimfahrt. Sie redeten nicht viel. Stefan fuhr zügig, summte eine Melodie mit,
die aus dem Radio klang. Er freute sich aufs Heimkommen, während Nadines Herz immer
schwerer wurde, je mehr sie sich Zürich näherten.
Nachdem Nadine und Stefan abgefahren
waren, war Leon mit den beiden Mädchen ins Haus zurückgegangen und hatte sich in
der Küche einen Kaffee gemacht. Lotte war nicht von seiner Seite gewichen.
»Na, Prinzessin,
was wollen wir spielen?«, fragte Leon.
Lotte zuckte
die Schultern.
»Ich habe
gehört, du hast neue Lego bekommen. Willst du mir die mal zeigen?«
Lotte nickte
und zog ihn in ihr Zimmer. Leon legte Luzia auf ein Maträtzchen und setzte sich
auf den Boden. »Die sind ja toll. Wollen wir etwas bauen? Was möchtest du bauen?«
»Ein Haus«,
schlug Lotte zögernd vor. Was ist nur mit diesem Mädchen los, dachte Leon. Wo ist
ihre Quirligkeit geblieben? Vor ein paar Monaten wären die Ideen nur so aus ihr
herausgesprudelt. Wahrscheinlich hätte sie
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