Katzenbach: Kriminalroman (German Edition)
rasen. »Angst«,
sagte sie, sie wusste nicht, ob Stefan sie verstand, aber jedenfalls merkte er,
dass sie sich nicht gut fühlte. Er erschrak. Ich habe sie überfordert, dachte er.
»Komm«, sagte er und führte sie hinaus, sie taumelte an seinem Arm, zitterte. Er
schob sie in den Lift, sie fuhren nach oben und waren gleich darauf im Zimmer. Nadine
ließ sich in einen Sessel fallen, schlug die Hände vors Gesicht und begann zu weinen.
Stefan holte ihr ein Glas Wasser, er zog ihr die engen Schuhe aus, legte ihr ein
Jäckchen um die Schultern. »Nadja, Nadja«, murmelte er, »so beruhige dich doch.
Du hast ein bisschen viel getrunken, das macht doch nichts.« Sie weinte heftiger.
»Du verstehst nichts«, stieß sie hervor.
»Was denn,
was verstehe ich nicht? Sag doch«, drängte er. Aber sie sagte nichts. Sie bebte
und schien ihr Schluchzen nicht mehr unter Kontrolle zu haben. Stefan wurde kalt.
Ich habe mir alles nur eingebildet, dachte er. Wie konnte ich annehmen, dass sich
von einem schönen, entspannten Tag alle Belastungen der letzten Monate verscheuchen
lassen. Sie ist erschöpft, sie hat vielleicht ein Burnout, und ich denke, mit gutem
Essen und Champagner würden sich alle Probleme in nichts auflösen. Er hob sie hoch
und legte sie aufs Bett. Sie presste ihr Gesicht ins Kissen, ihr Weinen wurde immer
verzweifelter. Stefan bekam Angst. Ob sie einen Arzt brauchte? Aus dem Bad holte
er eine leichte Schlaftablette und Wasser. »Komm, schluck das«, flüsterte er. Sie
nahm es. Sie ließ es zu, dass er sie auszog und ihr das Nachthemd überstreifte.
Er deckte sie zu. Sie weinte noch immer. Er blieb neben ihr sitzen, seine Hand auf
ihrer Schulter. Du verstehst nichts. Was verstand er nicht? Er verstand doch, dass
es hart war, ein Baby nicht nur zu lieben, sondern es mit ihrer Liebe beschützen
zu müssen gegen schockierte Blicke, verächtliche Bemerkungen, kalte Ablehnung. Er
würde ihr von jetzt an mehr dabei helfen. Langsam wurde sie ruhiger, die Tablette
begann zu wirken. Als Nadine eingeschlafen war, setzte sich Stefan auf den Balkon.
Es war jetzt sehr dunkel, Wolken hatten sich vor die Sterne geschoben. Er hatte
Angst.
Als Nadine
aufwachte, war es dunkel. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es vier Uhr morgens
war. Stefan schlief neben ihr. Langsam erinnerte sie sich. Sie hatte zu viel getrunken,
dann war ihr elend geworden, schwindlig, und dann hatte sie geweint. Vor Stefan.
Wie konnte sie nur? Hatte sie auch etwas gesagt? Nein, sie hatte geschwiegen, sie
wäre gar nicht imstande gewesen zu sprechen. Ich habe alles kaputt gemacht. Das
ganze Wochenende. Bedrückung legte sich wie ein nasses Tuch auf sie. Ihre heitere
Stimmung von gestern schien Lichtjahre entfernt. Was habe ich mir bloß eingebildet?
Alles werde gut? Ich sei ein anderer Mensch? Stefan hat sich solche Mühe gegeben,
und ich habe ihn enttäuscht. Was soll ich tun, wenn er aufwacht? Habe ich daran
geglaubt, ausbrechen zu können? Ich habe mich gestern einfach treiben lassen, davontragen
lassen, weg aus meinem Leben. Aber das geht nicht, natürlich geht es nicht. Wäre
ich bloß vorsichtiger gewesen.
Ihre Gedanken
gingen zurück zu jenem Sonntag, als Stefans Mutter zu Besuch gewesen war. Das war
das Ende gewesen, gestand sie sich ein. Das Ende ihrer Illusion, Luzia liebhaben
und beschützen zu können. Das Ende ihrer Widerstandskraft gegen die Feindseligkeit,
die ihnen entgegenschlug. Es war nicht nur, dass sie die Kränkungen, die Ausgrenzungen
nicht mehr aushalten konnte, das wäre vielleicht verständlich gewesen, für Leon,
für Stefan, für sie selbst, aber es war mehr. Gretas schroffe Ablehnung gegen Luzia
war wie ein Gift in sie, Luzias Mutter, hineingeträufelt. Sie hatte nicht mehr die
Kraft zur Gegenwehr, sie hatte Gretas Abscheu nichts mehr entgegenzusetzen gehabt.
Sie hatte nachher, als Greta gegangen und Stefan mit Lotte draußen gewesen war,
Luzia gewickelt. Sie hatte keine Zärtlichkeit für sie gespürt, keine Zuneigung,
kein Mitleid. Du bist so hässlich, hatte sie gedacht, und ich werde dich nie loswerden.
Wenn sie daran zurückdachte, wurde ihr fast übel vor Schuldgefühlen. Aber ihre Empfindungen
Luzia gegenüber hatten sich seither nie mehr verändert. Sie pflegte das Baby pflichtbewusst,
kämpfte den ärgsten Widerwillen nieder, aber sie liebte es nicht mehr. In ihr machte
sich eine große Leere breit, als hätte sie mit der Zuneigung für Luzia auch die
Gefühle für Lotte und Stefan verloren, als liebte sie das Leben
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