Katzenbach: Kriminalroman (German Edition)
überzeugte
Lotte. Während Leon Luzia das Fläschchen gab, malte sie eine Zeichnung, in die Leon
anschließend einen Willkommensgruß schrieb. Als Luzia nackt auf dem Wickeltisch
lag, hatte Leon eine Idee. Sie werden es mir sicher nicht übelnehmen, dachte er.
Er holte den Rasierapparat und begann, die Kleine sorgfältig am ganzen Körper zu
rasieren. Arme, Beine, Bauch. Er wusste selbst nicht genau, warum er das tat. Will
ich ihnen zeigen, dass sie im Grunde genommen ein ganz normales Kind haben?, fragte
er sich. Ist es nötig, dass ich das tue? Er legte das Baby auf den Bauch und rasierte
auf Rücken und Po weiter. Lotte stand daneben und schaute zu. Sie sagte nichts.
Dann cremte er den kleinen Körper ein und zog Luzia an. Ich kann in diese Familie
nicht hineinsehen, dachte er. Da ist ein Gewirr von Trauer, Unsicherheiten, von
Scham, Schuldgefühlen und Tapferkeit. Sie müssen da herausfinden, sonst gehen sie
kaputt daran.
Obwohl sie
früh aufgestanden waren, wurde es doch halb zehn, bis sie aufbrachen, denn Lotte
hatte plötzlich die Idee, sie wolle etwas anderes anziehen, nicht die blaue Hose,
sondern die rosarote und dazu das Jeansjäckchen. Leon tat ihr den Gefallen.
Im Zoo gefiel
es Lotte, auch wenn sie ab und zu unruhig wurde und fragte, ob Papa und Mama wohl
schon zu Hause angekommen wären. Sie gingen zu den Zicklein, die man streicheln
durfte, zu den Fischottern, die man durch eine Glasscheibe beim Schwimmen unter
Wasser beobachten konnte, zu den uralten, bedächtigen Riesenschildkröten, zum jungen
Elefäntchen und schließlich zu den Ponys, auf denen man reiten durfte. Lotte ritt
einige Runden, zuerst unsicher, dann zunehmend entzückt und stolz. »Luzia soll mich
sehen«, rief sie, und Leon hob die Kleine aus dem Wagen. Tatsächlich, sie lächelte
wieder. Sie aßen im Zoorestaurant, es hatte viele Leute, und Leon kämpfte sich mit
den beiden Kindern in die Damentoilette vor, da es nur dort einen Wickeltisch gab,
während Benja ergeben draußen wartete. Nachher wollte Lotte weder die Löwen noch
die Bären sehen, sondern unbedingt die Dinosaurier.
»Das wird
schwierig«, meinte Leon, und Lotte, schon etwas müde von all den Eindrücken, verzog
das Gesicht und presste ein paar Tränen hervor. Glücklicherweise kam Leon der Souvenirshop
in den Sinn. Er kaufte dem Mädchen einen Plastikdinosaurier, und dann machten sie
sich auf den Heimweg. In der Tram wurde Lotte nervös. »Meinst du, sie sind schon
da?«, fragte sie alle paar Minuten.
Zu Hause
machte sie sich an eine große Zeichnung mit Schildkröten, Löwen und Dinosauriern,
während Leon sich mit einem Kaffee auf das Sofa sinken ließ und schwor, sich frühestens
in einer halben Stunde wieder zu erheben.
Gegen halb sechs kamen Nadine und
Stefan. Lotte warf sich der Mama in die Arme und wollte sie gar nicht mehr loslassen.
Stefan nahm Luzia auf, die, zum dritten Mal an diesem Wochenende, ein bezauberndes
Lächeln aufsetzte. »Guck«, rief Stefan zu Nadine, »sie hat lächeln gelernt.«
Nadine kam
zögernd zu den beiden. Stefan reichte ihr das Kind. »Leon gibt uns da ja ein richtiges
Sonntagsbaby zurück.«
Leon beobachtete
die beiden. Er hätte gern gewusst, wie ihr Wochenende verlaufen war. Wirklich glücklich
wirkten sie nicht. Zufrieden, wieder daheim zu sein, aber auch etwas angespannt
und müde. Aber jetzt war sicher nicht der Moment, um nachzuforschen. Er hatte auch
keine Lust darauf, sondern sehnte sich nach seiner ruhigen Wohnung. Ein großes Bier,
dachte er, und die Fernbedienung. Mehr brauche ich heute nicht mehr.
Später stand Nadine vor dem Wickeltisch,
vor ihrer nackten kleinen Tochter und betrachtete ihr Körperchen. Leon, dachte sie,
warum hat er das getan? Sie legte für einen Moment ihre Wange an Luzias Bäuchlein,
fühlte die zarte, glatte Babyhaut. Stefan trat zu ihr. Er streichelte Luzias runde
Schulter. Er sagte nichts.
Katzenbach
Streiff hielt sich im Hintergrund,
während Rechtsmedizinerin Katja Keller Stefan Attinger zur Liege führte, auf der
das tote Baby lag. Er sah den Mann von hinten, sah, wie er beim Anblick des Kindes
zusammenzuckte. Er blieb lange dort stehen. Was mag ihm durch den Kopf gehen?, sinnierte
Streiff. Ein Kind zu verlieren, muss etwas vom Schlimmsten sein, was einem zustoßen
kann. Auch bei einem solch missgestalteten Kind? Streiff ging hinaus und rief seine
Mitarbeiterin Zita Elmer an.
»Komm ins
IRM und schau dir das tote Kind ebenfalls an. Falls wir schon weg sind, fahr uns
nach an
Weitere Kostenlose Bücher