Katzenbach: Kriminalroman (German Edition)
zusammenpackte.
Streiff
zuckte die Schultern.
Draußen
sah er auf die Uhr. »Sechs Uhr. Machen wir Schluss für heute. Morgen fangen wir
mit der Befragung der Nachbarn an und gehen dann nochmals zu Attingers hinüber.
Als Erstes fahre ich nochmals bei Lieselotte Bär vorbei.«
»Ja, ich
muss eh los, Leo von der Krippe abholen. Linus hat heute Spätdienst.« Zita Elmers
Mann war auch bei der Polizei, auf der Regionalwache Höngg.
Beat Streiff rief Valerie an. Sie
hatte sich ein wenig gefasst. Sie trafen sich bei der Allmend, gingen in Richtung
Leimbach, der Hund immer ein paar Hundert Meter voraus. Valerie hatte Picknick mitgebracht,
das sie, am Flussufer sitzend, aßen. Sie erzählte ihm von ihrer Begegnung mit Leon,
allerdings ohne zu erwähnen, was sie sich über ihn für Gedanken gemacht hatte.
»Habt ihr
schon etwas herausgefunden?«, wollte Valerie wissen.
»Nicht viel«,
sagte Streiff. Details aus laufenden Ermittlungen durfte er seiner Freundin natürlich
nicht weitererzählen.
»Mir tut
dieses kleine Kind so leid«, meinte Valerie. »Es hatte keine Chance. Aber ich habe
mir überlegt, wenn man es so sieht, denkt man doch, es sei getötet worden, weil
es so schrecklich aussah. Aber vielleicht hat sein Tod mit dieser Anomalie ja gar
nichts zu tun. Vielleicht wurde es aus ganz anderen Gründen umgebracht?«
Das hatte
sich Beat noch nicht überlegt. Ein kluger Gedanke; obwohl er sich nicht denken konnte,
aus welchem Grund überhaupt ein Baby getötet wurde. War es ein Kind mit Dreimonatskoliken
gewesen, das seine Eltern mit unablässigem Schreien an den Rand der Verzweiflung
getrieben hatte? War es ein ungeplantes Kind gewesen, und die Eltern hatten keine
Lust, nochmals von vorn zu beginnen, wo doch die ältere Tochter schon fünf Jahre
alt war? Das war natürlich absurd, aber Valerie hatte schon recht: Man durfte nichts
als gegeben hinnehmen, musste alles hinterfragen.
»Schläfst
du bei mir heute Nacht?«, fragte Valerie.
Beat nickte.
Sie wohnte im Kreis 2, viel zentraler als er. Er war vor einem Jahr nach Seebach
umgezogen, in eine moderne, geräumige Wohnung, die alle Vorteile hatte, aber den
Nachteil, dass sein Arbeitsweg viel länger geworden war. Deshalb übernachtete er
unter der Woche oft bei Valerie, während sie die freien Tage bei ihm verbrachten.
»Ich bin
froh, heute nicht allein zu sein«, gestand Valerie. »Die Geschichte mit diesem armen
kleinen Baby hat mich ganz traurig gemacht.«
Beat drückte
sie kurz an sich. Er war glücklich mit ihr, sie tat ihm gut. Wie bei fast allen
Polizisten bestand auch sein Freundes- und Bekanntenkreis größtenteils aus anderen
Polizisten. Es ergab sich einfach so. Es hat mit unserem Blick auf die Gesellschaft
zu tun, dachte er. Wir sind ständig konfrontiert mit den Schattenseiten der Menschen,
mit Gewalt, Feindseligkeit, Erbarmungslosigkeit. Das prägt. Sogar wenn er an einem
freien Tag durch die Bahnhofstrasse schlenderte, konnte es vorkommen, dass ihm eine
Person auffiel und er sofort wusste: Das ist ein Taschendieb. Er schaute dann weg,
aber mit schlechtem Gewissen; Polizist war man eben nicht nur während der Dienstzeiten.
Deshalb war er froh, dass Valerie nicht Polizistin war. Sie holte ihn immer wieder
raus aus seiner düsteren Polizistenperspektive, ihr fielen auf der Straße ganz andere
Dinge auf, die Art, wie eine Mutter sich mit ihrem Kind unterhielt beispielsweise,
oder spezielle Fahrräder oder eine merkwürdige Schaufenstergestaltung. »Wenn ich
einen alten Mann sehe, der seine Frau küsst, ist das genauso die Realität, wie wenn
du einen Typen wahrnimmst, dem du den Drogenhändler ansiehst«, hatte sie einmal
gesagt. Da hatte sie natürlich recht, und er gab sich Mühe, auch die erfreulichen
Dinge zu bemerken, die sich rund um ihn abspielten. Und doch, sein Blick war anders
geschult.
Lieselotte Bär war auch am nächsten
Morgen nicht zu Hause. Keiner der Nachbarn hatte sie heimkommen sehen. Der Mann,
der unter ihr wohnte, hatte auch ihren Fernseher nicht gehört. Höchstwahrscheinlich
war sie nicht zu Hause gewesen. »Wir müssen herauskriegen, wo sie sich aufhalten
könnte«, beschloss Streiff.
Elmer und
er teilten sich die Befragungen von Attingers Nachbarn auf. Elmer übernahm das Haus,
in dem Attingers wohnten, während Streiff sich das daneben vornahm. Es war wieder
schönes Sommerwetter, schon am Morgen angenehm warm. Die Umgebung wirkte friedlich
und ruhig. Nichts deutete darauf hin, dass einen Tag zuvor jemand ein Baby
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