Katzenbach: Kriminalroman (German Edition)
Verrückter, eine gestörte Nachbarin,
wer auch immer – oder war es jemand, der mit der Familie zu tun hatte, jemand, der
womöglich zur Familie gehörte? Könnte es Nadine in ihrer Verzweiflung und Überforderung
getan haben? Oder Stefan, der ihr auf eine verwirrte, entsetzliche Art helfen wollte?
Greta, die diese Schrecklichkeit einfach aus dem Weg haben wollte? Leon würde sich
hüten, diese Gedanken vor Stefan oder sonst jemandem auszusprechen, aber verdrängen
ließen sie sich nicht. Es war ihm klar, dass er auch Stefan nicht verbieten konnte,
darüber nachzudenken, auch wenn er ihn abgeklemmt hatte. Wen würde Stefan verdächtigen?
Hatte er einen Verdacht? Wie viel sollte man, musste man der Polizei sagen? Was
verschwieg man besser? Wollte er wirklich die Wahrheit wissen, wie auch immer sie
aussah? Doch, das wollte er, ging ihm plötzlich auf, und zwar wenigstens Lotte zuliebe.
Lotte würde älter werden, sie würde diese Katastrophe, die über die Familie hereingebrochen
war, als sie noch zu jung war, um sie wirklich zu verstehen, nie vergessen. Sie
musste wissen, wer ihre kleine Schwester in den Bach geworfen hatte.
»Ich bestelle
ein paar Pizzas«, sagte er und stand auf. Stefan nickte.
Als Valerie gegen fünf vom Einkaufen
kam, begegnete sie vor der Haustür ihrem Nachbarn Leon. Meist war er gutgelaunt
und energiegeladen, deshalb fiel es Valerie sofort auf, dass er schlecht aussah.
Bevor sie ihn fragen konnte, ob ihn eine Sommergrippe erwischt habe, wandte er sich
an sie: »Was ist denn mit dir los?« Sie waren schon seit über zehn Jahren Nachbarn
und kannten sich recht gut, aßen ab und zu zusammen oder machten einen Spaziergang
mit den Hunden. Valerie war bewusst, dass sie nicht gerade fröhlich wirkte.
»Ja, ich
habe was Schlimmes erlebt heute«, begann sie, »aber du siehst auch nicht gut aus.
Bist du krank?«
Er schüttelte
den Kopf.
»Magst du
bei mir auf dem Balkon ein Bier trinken?«, fragte Valerie. Sie gingen hinauf. Valerie
packte rasch ihre Einkäufe aus, stellte Seppli frisches Wasser hin und ging dann
mit zwei Gläsern Bier auf den Balkon, wo Leon sich niedergelassen hatte.
Sie stellte
ihm sein Bier hin, setzte sich, seufzte und sagte: »Ich habe heute Morgen am Katzenbach
in Seebach ein totes Baby gefunden.«
Er starrte
sie an. »Was, das warst du?«
»Ja, woher
weißt du denn – kennst du die Leute etwa?«
»Das Baby
ist meine Nichte«, sagte Leon.
»Deine Nichte?«
Valerie verstand gar nichts. Sie kannte nur Lotte, die ab und zu bei Leon auf Besuch
war.
»Ja. Lottes
Schwesterchen. Vier Monate alt ist sie geworden.«
Warum sieht
es so schrecklich aus?, wollte Valerie fragen, was ist mit ihm los? Sie konnte sich
gerade noch zurückhalten.
»Ich komme
gerade von Nadine und Stefan«, fuhr Leon fort. »Die Polizei war natürlich dort.
Haben nach Spuren gesucht. Stefan und Nadine befragt. Nadine ist völlig zusammengebrochen.«
»Wie, wie
ist denn das Kleine …«, stotterte Valerie, »in den Bach … gelangt?«
Leon zuckte
die Schultern. »Die Polizei weiß noch nichts. Jemand muss Luzia hineingeworfen haben.«
Luzia. So
hatte das Baby also geheißen. Es hatte einen Namen gehabt. Eine Familie. Ein Bettchen,
das noch nach ihm duftete. Kleine Strampelanzüge. Vielleicht ein Lieblingsplüschtier.
»Das tut
mir schrecklich leid«, flüsterte Valerie. Leons Schwester und seinen Schwager kannte
sie nur ganz flüchtig. Sie wusste, dass ihn eine enge und sehr herzliche Beziehung
mit seiner Schwester verband. »Es muss furchtbar sein für die Familie.«
»Ja, das
ist es«, nickte Leon und biss sich auf die Lippe.
Valerie
wagte sich vor. »Hatte es denn eine Krankheit? Ich meine, wegen der Härchen.«
Leon erklärte
es ihr.
»War das
nicht schwierig für die Eltern?«, fragte Valerie vorsichtig, sich an ihren Schock
beim Anblick des Säuglings erinnernd.
»Sie haben
Luzia geliebt«, sagte Leon kurz. »Andere Kinder haben auch eine Behinderung oder
sonst irgendetwas. Daran gewöhnt man sich.« Es war offensichtlich, dass er darüber
nicht sprechen wollte. »Sie war ein süßes kleines Kind.«
Valerie
zweifelte insgeheim daran, dass es so einfach gewesen war, aber sie sagte nichts.
»Wer kann
das nur getan haben«, murmelte sie, mehr zu sich selbst als zu Leon.
»Ja, das
frage ich mich auch«, sagte er, »das fragen wir uns alle.« Er stand auf. »Ich muss.
Benja ist allein im Garten, schon den ganzen Nachmittag. Muss mich ein wenig um
das alte Hundetier kümmern.« Er
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